Vincent van Gogh: Letters [Briefe]

Vincent van Goghs Mitteilungsbedürfnis muss ungeheuer gewesen sein. Er konnte – wenn er jemanden mochte und zu ihm Vertrauen gefasst hatte – stundenlang auf diesen Jemand einquatschen. Wenn ihm gerade niemand zur Verfügung stand, griff er zur schriftlichen Kommunikation. Er schrieb Briefe. Seitenlange Briefe. Hauptopfer seiner Kommunikationswut war sein jüngerer Bruder Theo. 902 Briefe sind auf uns gekommen, 810 von Vincent van Gogh, aber nur 83 an ihn. Das liegt daran, dass der Maler selber mit den Briefen, die er erhielt, nicht sehr sorgfältig umging, sie verlor oder vergass. Das liegt daran, dass auch andere Briefpartner ähnlich sorglos mit ihrer Korrespondenz umgingen; so wissen wir z.B. von vielen Briefen, die van Gogh an Toulouse-Lautrec schickte oder von ihm erhielt. Auf uns gekommen ist nichts davon. Nur Theo bewahrte Vincents Briefe ähnlich pietätvoll auf, wie er seine Bilder aufbewahrte, auch wenn er sie nicht verkaufen konnte. Und zum Glück für die Nachwelt war Theos Witwe (der um vier Jahre jüngere Theo starb rund ein halbes Jahr nach Vincent), zum Glück für die Nachwelt also ging Theos Witwe mit Vincents Briefen und Bildern genau so pietätvoll um, wie ihr verstorbener Mann. So müsste im Grunde genommen der vorliegende Band auch „Letters to Theo“ heissen – denn andere, als solche von Vincent an seinen kleinen Bruder figurieren in meiner Auswahl1) nicht.

Nur schon auf Grund ihrer Ausführlichkeit kann man sagen, dass im Falle der Briefe Vincent van Goghs ein Briefwechsel tatsächlich eine Biografie ersetzt. Das lässt sich hier sogar beweisen, ist es doch tatsächlich so, dass wir heute über van Goghs Pariser Jahre am wenigsten wissen. Das war die Zeit, als er sich mit seinem Bruder Theo eine Wohnung teilte. Da er ihn nun mündlich bequatschen konnte, fehlen uns seine Briefe für die Biografie.

Wenn man einmal von seinen ganz frühen Jahren absieht, in denen sich Vincent zum Priester berufen fühlte, und entsprechend an Theo auch Briefe mit frühreifen pastoralen Ermahnungen schickt, Briefe, die durchsetzt sind von jeder Menge Bibel-Zitate, so sind Vincent van Goghs Briefe an Theo äusserst faszinierend und interessant. Abgesehenn davon, dass wir – wie wir bei privaten Briefen wohl erwarten würden – viel aus dem intimen Leben Vincents erfahren (es wird allerdings, zumindest in meiner Auswahl, nie voyeuristisch): Van Gogh ist nicht nur ein begabter Landschaftsmaler mit dem Pinsel, er entpuppt sich auch in Worten als begabter Landschafts-Beschreiber. Sein Sinn für Farben, Töne und Mischungen steht ihm auch beim Schreiben zur Verfügung. Da könnte sich so mancher so genannte Realist oder Naturalist eine Scheibe davon abschneiden.

Natürlich fehlen auch Vincents Alltagssorgen nicht. Wo kriegt er die billigste Farbe her, die trotzdem seinen Bedürfnissen entspricht? Wo die besten Pinsel? Wo das beste Licht? Wo eine billige und doch gute Wohnung, ein billiges und doch gutes Studio zum Malen? Woher Modelle nehmen? Woher Essen? Immer wieder bittet Vincent seinen Bruder, ihm doch das monatliche Geld etwas früher zu schicken. (Der Deal zwischen den beiden Brüdern war, dass Theo seinen Bruder finanziell über Wasser hielt, dafür alle von Vincent gemalten Bilder zum Weiterverkauf erhielt. Theo verkaufte kaum eines davon. Keiner der beiden Brüder sollte erleben, welchen Preis ein „Vincent van Gogh“ erzielen kann…)

Neben Landschaftsbeschreibungen und Alltagssorgen finden wir auch immer wieder Hinweise / Zitate aus Vincent van Goghs Lektüre. Van Gogh muss ein fleissiger Leser gewesen sein. Vor allem die Romanciers des französischen Realismus und Naturalismus hatten es ihm angetan. An der Spitze Zola. Aber auch Balzac. Victor Hugo. Guy de Maupassant. Selbst Daudet. Die beiden Goncourts – allerdings nicht so sehr als Romanciers, sondern mehr als Kunstkritiker. Van Gogh teilte auch ihre Liebe für Japonaiserien. Von Nicht-Franzosen finde ich in den Briefen nur regelmässige Hinweise auf eine Dickens-Leküre; die Herausgeber wollen auch von einer Liebe zu Walt Whitman wissen, die van Goghs Malerei wesentlich beeinflusst habe.

À propos Kunstkritik: Man könnte aus van Goghs Briefen auch eine ganze Kunstkritik und Kunsttheorie extrahieren. Der Holländer schrieb zwar unsystematisch, aber er machte sich über die Malerei, die eigene wie die der anderen, durchaus Gedanken. Und nach seiner Pariser Zeit, in der er intensiven Umgang mit den dortigen Malern gepflegt hatte, sprach er von diesen als von den Impressionisten, sich explizit von dieser Stilrichtung abgrenzend. (Van Goghs Einordnung in einen ‚Postimpressionismus‘ ist aber dennoch, meiner Meinung nach, nur eine hilflose, aber gut klingende Bankrott-Erklärung einer Kunstgeschichte, die darauf beharrt, auch Ausnahmeerscheinungen ein erklärendes – und damit den Kritikergeist beruhigendes – Etikett anzupappen.)

Im Übrigen entpuppt sich Vincent van Gogh in seinen Briefen an seinen Bruder als Einzelgänger, der sich nichts sehnlicher wünscht als Gemeinschaft. Da sind einige Beziehungen zu Frauen, von der Familie nie gutgeheissen, weil diese Frauen aus eher anrüchigen Verhältnissen stammten, zum Teil Prostituierte waren. Da ist der Versuch, Gauguin zu unterstützen und mit ihm zusammen ein Atelier in Südfrankreich zu führen. Gauguin lebte in ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie van Gogh. Aber die beiden starken Charaktere kollidierten sehr rasch, und Paul Gauguin setzte sich einmal mehr in die Südsee ab. (So weit – geografisch gesehen – sollte es Vincent van Gogh nicht bringen, obwohl er in den knapp 37 Jahren Lebenszeit sich immerhin in England, Frankreich und Belgien aufgehalten hatte, von seiner Heimat Holland nicht zu reden.)

Meine Ausgabe ist sparsam kommentiert – gerade so viel, wie es braucht, um die Briefe in den grösseren Zusammenhang von van Goghs Leben einordnen zu können. Im Übrigen lässt man den Maler selber sprechen. Und das ist gut so: Vincent van Gogh ist ein Briefsteller ersten Ranges.


1) Letters of Vincent van Gogh. Edited by Mark Roskill. Introduced by Martin Gayford. London: The Folio Society, 2018. [Entspricht inhaltlich der Auswahl, wie sie 1963 bei William Collins erschienen ist, die ihrerseits auf einer Gesamtausgabe in der englischen Übersetzung von Jo van Gogh-Bonger aus den Jahren 1927-1929 beruht.]

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