Marcel Proust: Les Poèmes – Die Gedichte

Als Lyriker ist Marcel Proust ja nicht gerade bekannt. Und doch haben wir jetzt dieses über 400 Seiten dicke Buch mit seinen Gedichten vor uns. Lohnt sich eine Lektüre von Prousts Gedichten überhaupt? Lohnt sich eine Lektüre dieses Buchs?

Die Antwort auf die erste Frage ist ganz klar: Nein. Die Antwort auf die zweite Frage ebenso klar: Ja.

Proust hat sich Zeit seines Lebens als der ernst zu nehmende Autor verstanden, als den man ihn heute sieht. Seine Zeitgenossen haben in ihm lange nur den dilettierenden Dandy gesehen. Mehr ist er in seinen Gedichten tatsächlich kaum. Und so finden wir in diesem Buch (Marcel Proust: Les Poèmes – Die Gedichte. Französisch / Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Ditzingen: Reclam, 2018) nichts Nennenswertes. Proust hatte wenige Gedichte für eine Publikation geschrieben, das meiste waren Nebenprodukte. Das fängt schon in der Schulzeit an, wo er offenbar Zeit fand, während der Stunden Liebesgedichte an Klassenkameraden zu schreiben. Später hat er immer wieder Briefe (eigene und erhaltene) vollgekritzelt – die Gedichte oft mit kindlichen Zeichnungen ergänzend. Das waren dann kleine Stilübungen oder auch Satiren auf den Briefempfänger, auf Dritte. Widmungsgedichte schliessen den Reigen. Aber selbst die zur Veröffentlichung geschriebenen Gedichte sind nur für den Proust-Aficionado lesenswert, der jedes Fitzelchen kennen will, das der Autor je geschrieben hat. Proust zeigt sich darin vorwiegend als von den Symbolisten Verlaine und Baudaire, den Romantikern Nerval und Musset beeinflussten Symbolisten. Erhellend höchstens, wie der immer ernste und immer seriöse Ich-Erzähler der Recherche du temps perdu in den (nicht zur Veröffentlichung gedachten!) Gedichten ein durchaus jokoses, zu Scherzen aufgelegtes Pendant findet. So kennt man Proust kaum.

Dass sich die Lektüre des Buchs dennoch lohnt – zumindest für den Proust-Leser, der nun zwar nicht gleich jedes Fitzelchen kennen will, aber dennoch mindestens am Grossroman À la recherche du temps perdu interessiert ist – liegt nicht nur an der Entdeckung eines scherzenden Proust. Es liegt auch am Kommentar des Herausgebers. Und an den 88, zum Teil farbig wiedergegebenen, Abbildungen von Proust und von Persönlichkeiten aus seinem Leben (und damit auch aus seinem Roman). Teils Fotografien, teils Gemälde oder sogar Karikaturen, bringen sie so manchen Namen dem Proust-Leser etwas näher. Daneben, wie gesagt, der sorgfältig geschriebene Kommentar. Dieser erklärt nämlich nicht nur unklare Stellen, oder ordnet die Gedichte in Prousts Leben ein – er hat ein weiteres Ziel. Fischer legt den Finger immer wieder auf die Punkte, in denen wir Proust als Homosexuellen wieder finden, mit seinen Geliebten oder zumindest den Objekten seiner Begierde. (Nicht jeder nämlich erwiderte Prousts Avancen, aber offenbar war selbst zu Schulzeiten keiner wirklich schockiert davon.) Davon gibt es erstaunlich viele: In den Gedichten finden wir einen offenen und oft auch spielerisch-scherzhaften Umgang Prousts mit der Homosexualität, der eigenen wie fremder. Daraus zu schliessen, wie es der Herausgeber tut, die oft vorkommenden homophoben Äusserungen des Ich-Erzählers in der Recherche seien zumindest streckenweise ironisch zu nehmen, sozusagen als Insider-Scherz aufzufassen, halte ich aber für zu weit gehend. Ich denke, Proust unterschied sehr wohl zwischen seiner näheren Umgebung, die von seiner Veranlagung wusste und mit der er auch darüber scherzen konnte, und einem grösseren Publikum. Die homophoben Äusserungen des Ich-Erzählers der Recherche sind also durchaus ernst gemeint: Nebelpetarden, hinter deren Rauch Proust sein Privatleben weiterführen konnte.

Wer an Proust und seinem Grossroman À la recherche du temps perdu ein grösseres Interesse hat, als nur gerade die (nicht-existente) Handlung zur Kenntnis zu nehmen, sollte also zumindest Anmerkungen und Kommentar des Herausgebers lesen. Die Bilder betrachten wird er freiwillig.

2 Replies to “Marcel Proust: Les Poèmes – Die Gedichte”

  1. „Die Antwort auf die erste Frage ist ganz klar: Nein. Die Antwort auf die zweite Frage ebenso klar: Ja.“ – vielen Dank, das hat mir gut gefallen. Klar, die Gedichte selbst sind läppisch (selbst die gerühmten „Porträts“ hätte ich als Schüler auch zustande gebracht), aber die Summa, fand ich, ist geeignet, ein freundlicheres Licht auf Proust zu werfen als das Bild des urgesteinigen, unbesteigbaren Sprach-Himalaya, das die Literaturkritik seminaristischer Schule so anzubieten pflegt: Proust eben nicht als der depressive Weltverneiner, sondern als jemand, der Spaß am Leben hat und die Welt im wesentlichen ziemlich abgedreht findet. (Sonst hätte ich mich auch bei der Übersetzung nicht so glänzend amüsieren können.) Von dieser Warte her kann man auch erst die äußerst subtile Ironie genießen, die Proust spielen lässt. Dass er sich in seinem Bett wohler gefühlt hat als auf dem Marktplatz, lag nach meiner Einschätzung vor allem daran, dass in seinem Kopf einfach mehr los war als auf dem Flohmarkt der Eitelkeiten oder in der Disco. Gelegentlich hat er Drachenfutter gebraucht und hat Leute um Mitternacht rausgeklingelt, aber meistens wusste er auch so schon, was läuft, und fand es eher amüsant, sich bestätigt zu sehen.

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