Yevgeny Zamyatin: We [dt.: Wir / OT: Мы]

Vorbild dieses dystopischen Romans in Tagebuchform war When the Sleeper Awakes, H. G. Wells‘ dystopischer Roman von 1899. Wir wurde selber dann zum Vorbild der berühmten Dystopie 1984 von George Orwell und – in geringerem Masse – von Ray Bradburys Fahrenheit 451. Aldous Huxley behauptet, Wir erst gelesen zu haben, nachdem er Brave New World schon geschrieben hatte; er müsste demnach direkt von H. G. Wells beeinflusst sein.

Scheichsbeutel hat Samjatins Roman bei uns schon einmal vorgestellt. Ich gehe im Grosen und Ganzen mit ihm konform; in Einzelheiten habe ich den Roman anders gelesen. (Und im Übrigen – wie man wohl aus der Rechtschreibung des Autorennamens schon entnehmen kann – in einer englischen Übersetzung, der von Clarence Brown, 1993 zum ersten Mal bei Penguin Books erschienen, hier nun in einer bibliophilen Ausgabe der Folio Society von 2018, mit einem Vorwort von Ursula K. Le Guin und Illustrationen von Kit Russell.)

Wir als Dystopie

Darin, dass der Roman als Dystopie unbefriedigend ist, gehe ich mit Scheichsbeutel einig. Hie Ratio, dort Sentiment – tertium non datur. Die Frage für mich ist höchstens: Ist das so, weil der Autor es nicht besser wusste bzw. konnte, oder will er hier die Beschränktheit des Einheitsstaats bloss stellen, in dem die Handlung spielt? (Meine englische Übersetzung spricht von diesem Staat als vom OneState.) Denn ich bin der Meinung, dass OneState an vielen Orten bröckelt. Entgegen dem ersten Anschein hat der Einheitsstaat das Sentiment seiner nummerierten Bürger keineswegs im Griff – ganz sicher nicht zu Beginn des Romans. Nur äusserlich ist alles in Ordnung; die Bürger arbeiten nach den Prinzipien des US-amerikanischen Ingenieurs und Arbeitswissenschafters Frederick Winslow Taylor, der bei ihnen den gottähnlichen Status geniesst, den im ‚realen Sozialismus‘ Marx und Lenin einnehmen sollten. Hinter den Kulissen brodeln bei Männern wie bei Frauen die Gefühle.

Ratio vs. Sentiment

Selbst offizielle staatliche Anlässe zeigen, wie wenig OneState auf die Gefühle seiner Bürger-Nummern verzichten kann. Da werden grosse Aufmärsche und auch eine Art Gottesdienst inszeniert, die mit dem Abspielen von staatlich genehmer Musik und dem Vortrag von staatlich genehmer Literatur ganz eindeutig an die Gefühle der Bürger appellieren. (Wohl, weil die anders nicht bei der Stange zu halten wären.)

Die rationale Fassade bröckelt auch beim Individuum (das es, auf Grund der Nummerierung der Bürger, eigentlich gar nicht geben sollte). So vor allem und zu allermeist bei D-503, dem Ich-Erzähler. Trotz seiner Nummer – in diesem Staat tragen alle Menschen eine Nummer und keinen Namen, ausser dem Grossen Wohltäter, der dann aber auch nur „der Grosse Wohltäter“ heisst – trotz seiner Nummer also und der Tatsache, dass er der erste Baumeister der Rakete Integral ist, eines Prestigeprojekts, mit dessen Hilfe der Einheitsstaat seine Einheitsdoktrin weiter im Sonnensystem ausbreiten will, fällt er – wie es Scheichsbeutel formuliert – den Lockungen des Weibs zum Opfer. (Eigentlich will dem Leser im Verlauf der Lektüre schon das Projekt der Integral nicht einleuchten. Denn logisch und rational ist es in keinem Fall: Da will der Einheitsstaat fremde Planeten mit seiner Doktrin infizieren (wie genau, bleibt sowieso offen) – aber vor seiner Haustüre (genauer gesagt vor den aus Glas und elektromagnetischen Wellen erstellten Mauern, die die Stadt (mehr ist der Einheitsstaat nämlich gar nicht!) umfassen) leben offenbar andere, „wilde“ Menschen, die der Doktrin keineswegs unterworfen sind, die zu unterwerfen der Einheitsstaat aber auch nicht plant. Vielleicht, weil man offiziell von diesen Menschen gar nicht weiss, gar nicht wissen darf? Ratio lässt sich darin nicht erblicken.)

Und ewig lockt das Weib – aber wie?

Obwohl Sexualität und Reproduktion eigentlich staatlich geregelt sind (Männlein und Weiblein werden einander zugeteilt und haben in regelmässigen Abständen Sex zu haben, dabei ist es offenbar so, dass zumindest die Weiblein zwei oder mehr Männlein zugeteilt werden – diese Kopulationen dürfen aber keineswegs zu Kindersegen führen, der wiederum staatlich zugeteilt wird): O-90, die (unter anderen) D-503 offiziell zugeteilte Kopulationspartnerin, ist tatsächlich in ihn verliebt, ja sie will sogar ein Baby von ihm, was mit der Todesstrafe für die Mutter geahndet wird. Und selbst die ältliche Kontrolleurin im Block, den D-503 bewohnt, eine U ohne Nummer (D-503 will die Nummer lieber nicht nennen in seinem Tagebuch), ist in den Ingenieur verliebt. D-503 seinerseits…

D-503 seinerseits ist ebenfalls verliebt. Es ist sogar diese Liebe, die ihn in den Aufstand der MEPHI genannten Untergrundgruppe zieht – die Liebe zu der in dieser Gruppe offenbar einen führenden Anteil nehmenden I-330. Eine, gelinde gesagt, merkwürdige Liebe. Tatsächlich ist es so, dass D-503 der I-330 sexuell und auch andersweitig hörig ist. Er verhält sich ihr gegenüber nachgerade wie ein Sklave und wird von ihr auch so behandelt, ja so angesprochen. Wir finden in seinem Tagebuch seitenlange, masochistisch gefärbte Liebes-Rhapsodien. Und so stehen wir plötzlich in einer ganz andern literarischen Tradition, einer Tradition, die, so weit ich sehe, für Wir noch nicht weiter exploriert wurde. (Oder vielleicht wurde sie es, ich habe ja nun nicht die ganze Sekundärliteratur durchforscht.) Es ist die Tradition des Liebesromans mit dominanten Frauen und submissiven Männern. I-330 ist nichts anderes als eine Variante der Venus im Pelz. Beide leben in puritanisch angehauchten Gesellschaften, wo das Ausleben von Sexualität ausserhalb der gesellschaftlich akzeptierten Formen Tabu ist, und gerade deswegen einen grossen Reiz ausübt und zu eskalieren droht. Venus im Pelz 1870, Sie 1886 – und nun als Nachzügler Wir von 1920.

Die letzte Revolution

Dass die Menschen jetzt geschützt hinter einer Glasmauer in gläsernen Wohnungen leben, verdanken sie einer Revolution, die nach 200 Jahren Krieg die Menschheit befriedete. (Jedenfalls so weit die Menschheit mit der Bevölkerung der einen Stadt gleich gesetzt werden kann – was D-503, als loyaler Bewohner natürlich tut.) Doch kein Frieden ist ewig, keine Revolution die letzte, wie I-330 ihrem Cisisbeo D-503 erklärt: Es gibt so wenig die letzte Revolution, wie es die letzte (i.e. höchste) Zahl gibt – etwas, das dem Mathematiker und Ingenieur D-503 Stoff zum Nachdenken gibt.

Als MEPHI – aus den Erzählungen von D-503 gewinnt man den Eindruck: etwas desorganisiert – angreifen, scheitern sie mit dem primären Ziel, die Integral in ihren Besitz zu bringen. (Warum auch immer die Integral – D-503 scheint es nicht zu verstehen und kann es deshalb dem Leser seines Tagebuchs auch nicht erklären.) Viele Revolutionäre werden gefasst. D-503 wird zu einer Operation gezwungen, die sein Phantasie-Zentrum zerstören und dadurch seine Aufmüpfigkeit löschen soll. (Eine Kastration wäre diesbezüglich wohl sinnvoller gewesen; aber vielleicht ist diese Löschung der Phantasie ja auch nur ein Euphemismus Samjatins dafür?) Andere – darunter auch I-330 (?) werden gefoltert und hingerichtet. Wenn man nun der Meinung ist – und ich habe das vielerorts so ausgedrückt gefunden – dass die Revolution unterdrückt ist, so hat man den einen Satz nicht gelesen, in dem der mittlerweile operierte D-503 davon erzählt, dass in den Vorstädten immer noch gekämpft wird.

Der Sieger der Auseinandersetzung zwischen MEPHI und Einheitsstaat ist also selbst innerhalb des vom Roman umfassten Zeitraums nicht klar. Auch wenn I-330 tot ist, und D-503 zum braven Bürger zurückoperiert wird: Es ist das Vermächtnis von I-330, dass keine Revolution die letzte ist, also immer wieder eine statt finden wird.

Ursula K. Le Guins Vorwort

Meine Ausgabe enthält, wie erwähnt, noch ein Vorwort der US-amerikanischen Verfasserin von Phantasy und Science Fiction, Ursula K. Le Guin. 1973 als Vorwort für eine andere Ausgabe von We verfasst, zu einer Zeit also, als Samjatins Roman in seiner Heimat noch immer nicht offiziell erscheinen durfte, geht Le Guin vom Phänomen der Zensur aus, die auf Samjatin ausgeübt wurde. Von daher geht sie über zum Phänomen der ‚Schere im Kopf‘, der Auto-Zensur, die so mancher Autor, so manche Autorin, bei sich selber ausübt, wenn sie nicht ihren grossen, ihren einen, Science-Fiction-Roman schreiben, sondern Tagesware, die sich verkauft und die ihr Leben finanziert. Das hat, ausser dem Ausgangspunkt, wenig mit Samjatin zu tun, ist aber bis heute als Beschreibung dieses Autoren-Dilemmas lesenswert.

Schluss

Wie ich auch den Roman von Samjatin als lesenswert einstufen würden. Auch und gerade unter der Sichtweise, die ich hier skizziert habe, und selbst wenn der Roman durch diese Gegenüberstellung von Sozial-Dystopie einerseits, höriger Liebe andererseits, hin und wieder einen sehr disparaten Eindruck macht.

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