François-René de Chateaubriand: Atala

Atala wurde dieses Jahr vom Dörlemann-Verlag in der Übersetzung von Cornelia Hasting einem breiteren deutschen Lesepublikum wieder in Erinnerung gerufen. Das ist sehr verdienstvoll. Der kleine Roman erschien 1802 zum ersten Mal, geht nun also langsam auf seinen 250. Geburtstag zu. Wie bei einer verstaubten und mit Spinnweben überzogenen Flasche Wein, die man im Keller des verstorbenen Grossvaters gefunden hat, stellt sich nun die Frage: Hat er gut gealtert?

Immerhin war es der Roman Atala, zusammen mit seinem Bruder René (mit dem er sich einiges Personal teilt und mit dem er auch oft zusammen veröffentlicht wird), der Chateaubriand berühmt machte. Die Franzosen betrachten ihn als Startschuss ihrer Romantik und rechnen ihn zu ihren Klassikern. Bis heute lobt man die eingestreuten stimmungsvollen Naturschilderungen (so z.B. der Wikipedia-Artikel über Chateaubriand).

Persönlich finde ich die Naturschilderungen eher passabel denn stimmungsvoll – aber wer Geschmack an den Schilderungen eines Brockes oder eines Thoreau gefunden hat, kann mit derart künstlich aufgebauten Kulissen wenig mehr anfangen, fürchte ich. Die Geschichte als solche ist – mit Verlaub – hanebüchen und aus heutiger Sicht ungeniessbar. Da stört nicht nur die Larmoyanz, die Chateaubriand ständig und überall einstreut, der alte Indianer Chactas, der seine Liebesgeschichte erzählt und dabei flennt wie ein Schosshund. Es ist die grundlegende Konstruktion: Atala, die auf die Erfüllung ihrer Liebe verzichtet und lieber Selbstmord begeht als zu heiraten. Warum? Sie hat ihrer Mutter in Beisein eines Priesters das Gelübde abgelegt, ihr Leben als Jungfrau zu beschliessen. Um dieses Gelübde unter keinen Umständen zu brechen – nicht einmal in einer gutbürgerlich-indianischen Ehe –, bringt sie sich lieber im Beisein ihres Geliebten und eines andern Priesters um. Denn Atala hat eine französische Mutter und ist katholisch-fromm erzogen.

An diesem Endoskelett, das den Roman trägt, kann wohl nur Gefallen finden, wer religiöse Begründungen für an sich sinnlose Handlungen zu akzeptieren bereit ist. Und selbst ein Katholik muss sich fragen, warum Atala, um eine letzten Endes lässliche Sünde wie das Brechen eines Gelübdes zu vermeiden, sich selber umbringt – eine im katholischen Katechismus viel schwerwiegendere Sünde. Noch besser: Weil Atala sich mit einem sehr langsam wirkenden Gift umbringt, kommt sie noch dazu, ihrem Geliebten und dem Priester, bei dem das vor Atalas Stammesbrüdern fliehende Paar Unterschlupf gefunden hat, die Chose zu erzählen. Hätte er das doch vorher gewusst, kann sich der Priester nicht enthalten, der Sterbenden und ihrem untröstlichen Galan an den Kopf zu werfen, dann hätte er beim Bischof von Québec um einen Dispens vom Gelübde nachsuchen lassen, welchen Atala unweigerlich erhalten hätte, war es doch nur ein privates Gelübde gewesen, das sie abgelegt hat, ein Gelübde, von dem die Kirche jederzeit entbinden könne. Kasuistischer hätte kein Jesuit argumentieren können wie dieser Eremit…

An Handlung, an ‘Action’, hat der Roman sowieso wenig aufzuweisen, wie sogar der Autor selber in seinem Vorwort zugibt. Er sei, so Chateaubriand sinngemäss, mit Homer in der einen und der Bibel in der andern Hand durch die Prärie gezogen. Chateaubriands Homer-Interpretation ist nicht die meine; ich finde wenig vom alten Griechen in Atala. Die Bibel hingegen wird an allen Ecken und Enden zitiert, selbst das Hohe Lied wird nicht verschont, um Chactas’ Liebe zu Atala höhere Weihen zu verleihen.

Was also machte den damaligen sofortigen Erfolg des Romans aus? Ich vermute, da sind an erster Stelle die Anklänge an den seit Rousseau berühmten „guten Wilden“ zu nennen, obwohl der edle Wilde hier weiblich und auch höchstens halbwild ist – Atala wie gesagt ‘nur’ eine Halbindianerin und stockkatholisch. Ich vermute, auch und gerade dieser Katholizismus trug zum Erfolg bei – ein Katholizismus, der mit der erneuten Hinwendung des französischen Staats unter Napoléon zur katholischen Kirche gerade en vogue war. (In der parallel dazu stattfindenden und sehr ostentativen Hinwendung Chateaubriands zum Katholizismus steckt auch viel Opportunismus!) Last but not least spielt wohl der exotische Schauplatz eine nicht unbeträchtliche Rolle – die damaligen französischen Kolonien im Süden der heutigen USA, um den Mississippi herum. Chateaubriand hat sich ja tatsächlich eine Zeitlang auf dem nordamerikanischen Kontinent aufgehalten. Allerdings kennt er den Schauplatz von Atala nicht aus eigener Erfahrung. Er hat sich in den nördlichen Kolonien aufgehalten und will dort auch einmal mit einem Indianerstamm auf einen Jagdzug gegangen sein.

Immerhin war der exotische Schauplatz der nordamerikanischen Indianer, die als Jäger und Sammler die Wälder und Prärien durchzogen, während des ganzen 19. Jahrhunderts der Grund und der Garant schriftstellerischen Erfolgs: Ein Vierteljahrhundert nach Atala sollte Der letzte Mohikaner folgen, auch er mit einem Paradebeispiel des edlen Wilden. In Deutschland waren es Gerstäcker, Karl Anton Postl (besser bekannt als Charles Sealsfield), die davon profitierten (ohne allerdings den edlen Wilden derart penetrant in den Vordergrund zu stellen wie Chateaubriand und Cooper), dann natürlich – nicht nur Gerstäcker und Sealsfield überstrahlend, sondern zumindest in Deutschland auch den Franzosen und den Amerikaner – Karl May mit dem über-edlen Wilden Winnetou. Coopers edler Wilde ist heute auch nur noch bedingt geniessbar, Karl Mays Winnetou bestenfalls als Kuriosum oder nostalgische Jugenderinnerung.

Es ist, wie gesagt, meiner Meinung nach sehr verdienstvoll vom Dörlemann-Verlag, Atala dem deutschen Publikum in einer modernen (und guten!) Übersetzung wieder zugänglich gemacht zu haben. Wer aber nicht literatur- oder im weitesten Sinn kulturgeschichtliches Interesse an der französischen Romantik oder am Phänomen des ‘edlen Wilden’ in der Literatur aufbringen kann, braucht diesen Roman nicht zu lesen. Diese Person liest mit mehr Gewinn die Gebrauchsanleitung ihrer Mikrowelle. Oder des Teilchenbeschleunigers am CERN. Oder ein Rezept zur Herstellung jenes Schnitzels, das man bis heute mit dem Namen Chateaubriands verknüpft, und das bedeutend geniessbarer ist, als sein alter Roman. Der hat in Tat und Wahrheit sehr schlecht gealtert.

So, und jetzt habe ich Hunger…

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