Allgemeine Moral. Oder: Die Pflichten des Menschen, begründet in seiner Natur.
Dieser Text enthält den Versuch Holbachs, eine Ethik zu begründen, die nicht auf eine überirdische Kontrollinstanz zurückgreift, wie es die zu seiner Zeit handelsüblichen Ethiken taten: kein Gott, keine Androhung von Bestrafung oder Belohnung in einem jenseitigen Paradies. Holbach weist die ethischen Konstruktionen der alten Griechen – allen voran Pythagoras, den er als Sektengründer behandelt, aber auch die sokratisch-platonische Tradition (inkl. Xenophon), auch Aristoteles und die ihnen nachfolgenden skeptischen und stoischen Schulen – fast ebenso radikal zurück, wie die seiner Meinung nach wirklich bösartigen eines Hobbes oder eines Mandeville. Den Unterschied zwischen Materialismus / Sensualismus (Locke, Hobbes) und Idealismus (Berkeley) lässt er dabei bewusst beiseite; das Leib-Seele-Problem interessiert ihn genau so wenig, denn es spielt seiner Meinung nach fürs moralische Handeln keine Rolle, ob und wie da eine putative Seele den Körper steuert. (Dass er de facto einem Materialismus huldigt, zeigt sich daran, dass er vom Menschen auch immer wieder als von der ‚Maschine‘ spricht, und in diesem Wort Leib und Seele zusammenfasst.) Trotz dieser Zurückweisung der antiken Stoa sind seine Lieblingsautoren, aus denen er zitiert, immer noch die stoisch angehauchten Eklektiker Seneca und Cicero, sowie der Satiriker Juvenal. Hinzu kommen Plutarch und von den ‚Modernen‘ Montaigne, aus dessen Essais er ebenfalls fleissig zitiert.
Was aber will Holbach denn an die Stelle der alten ethischen Schulen (von den christlichen Versuchen zu schweigen) setzen? Einfach zusammengefasst verfolgt er einen utilitaristischen Ansatz: Der Mensch nimmt Rücksicht auf seinen Nächsten, weil es ihm umgekehrt ebenfalls hilft, wenn diese Rücksicht auf ihn nehmen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu.“ Gegenseitige Rücksichtnahme, unter Umständen Verzicht auf eine kurzzeitige Erfüllung eines Wunsches im Hinblick darauf, dass ich unter den langfristigen gesellschaftlichen Konsequenzen zu leiden haben könnte – das ist sein Credo.
All diese Informationen kann der Leser schon aus den ersten paar Kapiteln ziehen. Danach wird Holbach, wie schon im Système social (der Text hier befindet sich übrigens in derselben Ausgabe, die dort angegeben ist), repetitiv und ermüdend. So finden wir zum Beispiel lange Exkurse in die verfehlte Erziehung adliger Söhne und Töchter. (Wobei man sich keine Illusionen machen darf: Die Töchter sollen zwar auch erzogen werden, und etwas mehr lernen, als nur dekorativ mit einem Stickrahmen in den Händen herumzusitzen, Vapeurs zu haben und auf einen potenziellen Freier zu warten. Aber das Ziel ihrer Erziehung soll dennoch sein, dem Mann eine gute und valable Gefährtin abzugeben: eine verantwortungsbewusste Mutter und Vorsteherin des Haushalts. Gleichberechtigung der Frau, wie wir sie heute fordern, war Holbach unbekannt.)
Pikant im historischen Rückblick ist der einzige Abschnitt, in dem Holbach explizit auf die französischen Verhältnisse eingeht, und wo er Louis XVI sehr dafür lobt, dass er angetreten sei, die Missstände am Hof (Nepotismus, Geldverschwendung, Korruption und Mätressen-Wirtschaft) abzuschaffen. Wir wissen heute, dass das Lob verfrüht war, Louis XVI von den herrschenden Verhältnissen zurechtgebogen wurde und nicht umgekehrt. Nun, er hat dafür gebüsst.
Alles in allem: Die ersten Kapitel sind lesenswert, danach wiederholt sich Holbach und wird ebenso belanglos, wie er es seinen Vorläufern in ethicis vorwirft.