Ferguson glaubt sechs „Killerapplikationen“ – in seinen Worten – auszumachen, die für die Übermacht des Westens verantwortlich zeichnen: Den Wettbewerb, die wissenschaftliche Revolution, die Entwicklung des Rechtsstaates mit verbürgtem Eigentum, die moderne Medizin, die Konsumgesellschaft und die Arbeitsethik (protestantischer Natur, wie sie schon von Max Weber als eine der Hauptursachen für die Entwicklung des Westens dingfest gemacht wurde). Bei den beiden ersten angeführten „Applikationen“ ist sein Argumentation überaus stringent und nachvollziehbar: Er stellt den Wettbewerb in Europa um 1500 der Entwicklung des chinesischen Reiches gegenüber, das als ein erratischer Block einem solchen Konkurrenzdenken nicht ausgesetzt war. Schon die eigentlich noch blühende Ming-Dynastie trug den Keim der Stagnation in sich: Man war es mit der Situation zufrieden, war imstande, die Bevölkerung zu ernähren, allerdings schloss der konsequente Konfuzianismus Neuerungen weitgehend aus. Nach dem Zusammenbruch dieser Dynastie kam es zu Kriegswirren (die ähnlich wie im Europa der Glaubenskriege die Bevölkerung dezimierten) und zu einer Abschottung (Japan betrieb eine ähnlich Politik während der Tokugawa-Zeit). All das setzte die miteinander konkurrierenden Völker Europas in Vorteil: Stagnation bedeutete – vor allem nach der Reformation und der erwähnten Änderung der Arbeitsethik, die das Glück nicht mehr im Jenseits verortete, sondern Gottes Gnade im Hier und Jetzt spürbar werden ließ – im Wettbewerb mit den anderen Nationen zu unterliegen, ohne Einfallsreichtum und Abenteurertum zählte man zu den Verlierern. (Wobei ein Phänomen sichtbar wurde, das in der heutigen Zeit – in Entwicklungsländern – immer noch von Bedeutung ist: Der Reichtum durch Bodenschätze (Spaniens Gold- und Silberimporte aus Südamerika) führt auf die Dauer zu fehlenden Innovationen, zu einer wirtschaftlichen Selbstgefälligkeit, dem Reichtum weniger. So zählen auch heute Länder wie Nigeria oder Venezuela zu den korruptesten und ärmsten Ländern: Die breite Bevölkerung profitiert in der Regel nicht vom Reichtum des Landes.)
Die wissenschaftliche Entwicklung in Europa stellt er der zunehmend religiös orientierten Politik in den muslimischen Ländern gegenüber: Und er zeigt, dass das Beharren der religiösen Elite auf Traditionen eine Entwicklung in diesem Bereich verhindert hat. Insbesondere das osmanische Reich hat durch seine Weigerung, politische Reformen einzuleiten, zunehmend an Einfluss verloren und wurde von der bedeutendsten Macht im östlichen Europa zum „kranken Mann am Bosporus“. Trotz zahlreicher Bemühungen von Beratern, sowohl militärisch als auch politisch Änderungen einzuleiten (unfähige und im Harem großgewordene Herrscher waren bei ihrer Machtübernahme mit den Anforderungen der Wirklichkeit oft heillos überfordert), blieb die Umsetzung eine realpolitische Unmöglichkeit: So forderte Ibrahim Müteferrika schon 1732 eine Abkehr von der Scharia und „der Vernunft entsprungene Gesetze und Regeln“, aber all diese Reformvorschläge wurden durch jene, die ihre Pfründe bedroht sahen, verhindert. (Möglicherweise steht der Türkei ein erneuter Rückschritt bevor, da Erdogan meint, sich auf die religiösen Wurzeln besinnen zu müssen und schon nach wenigen Jahren ein veritables wirtschaftliches Chaos verursacht hat.)
Die anderen, von Ferguson aufgeführten Gründe, sind großteils Folgeerscheinungen von Wissenschaft und Rechtsstaatlichkeit. Gänzlich unsinnig ist es etwa zu behaupten, dass die Medizin einer der Hauptgründe für die Dominanz des Westens sei: Von medizinischen Erfolgen kann man ohnehin erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen (zuvor war es statistischen Erhebungen nach gesünder und klüger, keinen Arzt aufzusuchen) und dieser Erfolg ist schlicht eine Folge der naturwissenschaftlichen (kritischen) Forschung. Ähnlich verhält es sich mit der Konsumgesellschaft: Sie ist ohne rechtsstaatliche Garantien und freiheitlichen Handelsbestimmungen nicht denkbar, ist eine Folge dieses Denkens und nicht ursächlich für den Erfolg des Westens verantwortlich.
Was bei Ferguson weitgehend ausgespart wird ist die Frage, inwieweit dieser ökonomische Erfolg einen Wert an sich darstellt. Er hält dies offenkundig für selbstverständlich, argumentiert, dass auch der Kolonialismus durch Übertragung der westlichen Werte größtenteils positiv zu bewerten sei (die betroffenen Völker sind hier möglicherweise anderer Meinung) und stellt in seinem Epilog (er vermutet, dass China bzw. Asien den Westen als führende Macht ablösen wird) die Frage, wie der Westen diese Machtablöse verhindern könnte (durch mehr Arbeit, implizit hält er auch die Religion für ein Instrument, das die wirtschaftliche Leistung bzw. den Zusammenhalt erhöhen würde), wobei diese Macht als etwas per se Erstrebenswertes angesehen wird. Bei all den ökonomischen Überlegungen bleiben Fragen der Umweltzerstörung, Ausbeutung oder Überbevölkerung unberücksichtigt: Er scheint der simplen Gleichung anzuhängen, das mehr Geld auch glücklicher macht (was so einfach denn doch nicht sein dürfte). Und auch Fragen der Freiheit beschränken sich auf wirtschaftliche Freiheit, auf Wirtschaftsliberalismus, nicht auf die persönlichen, individuellen Freiheitsrechte.
Überhaupt erscheinen die letzten Kapitel mit dem eigentlichen Thema des Buches oft gar nichts zu tun zu haben: Die Frage nach dem medizinischen Fortschritt wird mit rassentheoretischen, historischen Überlegungen vernknüpft, die nach dem Konsum mit der kulturellen Bedeutung von Bekleidung. Unabhängig von ihrer mangelnden Einbettung in den Gesamtkontext sind diese Abschnitte interessant und überaus anregend, obschon viele Ausführungen zum Widerspruch reizen. So bleibt es ein insgesamt sehr lesbares Buch, dessen Aussagen aber einer kritischen Beurteilung bedürfen. Ferguson sieht sich ein wenig als Nachfolger Huntingtons (ohne dessen Einseitigkeit) oder von Jared Diamond: Dessen Analysen über den Aufstieg und Untergang von Zivilisationen (etwa in „Kollaps“) aber ungleich schärfer sind und plausibler anmuten.
Niall Ferguson: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen. Berlin: List 2013.