Système social – Gesellschaftssystem. Wie viele Schriften Holbachs ist auch diese (1773) anonym erschienen. Ich weiss nicht, auf Grund welcher Argumente sie ihm von wem zugeschrieben worden ist; m.W. hat man in Holbachs Nachlass keine Liste gefunden mit den von ihm veröffentlichten Werken.
Système social beginnt in einem einigermassen ‚philosophischen‘ Ton, indem Holbach im ersten Buch die „natürlichen Prinzipien der Moral“ untersucht. Woher nimmt der Einzelne die Richtlinien für sein (moralisches) Verhalten? Für Holbach ist es klar: Verantwortlich sind die Erziehung im engeren Sinn und im weiteren Sinn Vorbilder, die den Menschen umgeben – in immer weiteren Kreisen Elternhaus, Familie, Freunde, Gesellschaft, Nation. Seine Gesellschaftstheorie ist recht simpel. Er wehrt sich gegen Machiavelli oder Hobbes, die der eine dem politischen Überleben eines Fürsten zu viel Raum geben, der andere der Macht des Staats, aber er tut das mehr aus einem moralischen Bauchgefühl heraus, als mit theoretisch-philosophischen Argumenten. Er verwirft den Gedanken eines eingeborenen Sinns für das Gute, wie er ihn bei den englischen Idealisten Shaftesbury und Hutcheson findet, bei Locke und bei Hume. (Abgesehen von diesem Punkt zitiert er allerdings die beiden letzteren des öfteren zustimmend. Ansonsten fällt auf, dass er bei aller Kritik an der Stoa die beiden stark stoisch eingefärbten Römer Seneca und Cicero am meisten zitiert – wohl, weil auch sie die herrschenden politischen Verhältnisse immer wieder kritisierten. Pope taucht einmal an prominenter Stelle auf, dann allerdings nie wieder. Sallust und Tacitus sind seine bevorzugten Geschichtsschreiber, Juvenal und Petronius seine bevorzugten Satiriker.)
Auch Holbachs Religionskritik ist eine Sache des vom Verstand gestützten Bauchgefühls. Der Atheist dringt bei Holbach zwar überall durch, aber dieser Atheismus ist mehr einer aus dem Bauch als ein rationales Konstrukt. Er argumentiert in seiner Religionskritik immer noch bedeutend rationaler als der französische Curé Meslier in der seinen und bedeutend weniger repetitiv. Aber es ist ganz klar, dass für Holbach die Religion am Anfang aller Übel der modernen Zeit steht. Die Religion und – was Europa betrifft – die philosophische Sekte der Stoa mit ihrer lebens- und leibesfeindlichen Einstellung, von der die Kirchenväter viel (viel zu viel für Holbach) abgekupfert haben. (Es wird nicht überraschen, dass Holbach mit dieser Einstellung eine etwa eine Seite lange Ehrenrettung Epikurs unternimmt. Später allerdings wird Epikur nicht mehr erscheinen.)
Alles in allem aber sind diese rund 300 Seiten weniger eine philosophische Abhandlung, als ein flammendes politisches Pamphlet. Das zeigt sich schon in der Sprache: Parataxen und rhetorische Fragen zu Hauf. Dass man heute ein Pamphlet, das in der Tagespolitik Wirkung entfalten soll, nicht mehr mit Zitaten aus den alten Lateinern spicken könnte, zeigt, wie sich zumindest in dieser Hinsicht die Welt entwickelt hat, denn der Glaube an Vernunft und Wahrheit als Allerheilmittel wirkt auf den Zyniker des 21. Jahrhunderts nachgerade kindlich; die Tatsache, dass viele Zustände, die Holbach im 18. Jahrhundert kritisiert hat und bei denen er die Menschheit auf einem Weg glaubte, sie langsam hinter sich zu lassen, erneut ihren Hydrenkopf erheben, hingegen stimmt nachdenklich.
Durchaus auch heute noch lesenswert, wenn auch nicht ein ganz grosses Meisterwerk der Philosophie.
Paul-Henri Thiry d’Holbach: Œuvres philosophiques 1773 – 1790. Paris: Coda, 2004.
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