Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Der Autor berichtet auf eindrucksvolle Weise von der schleichenden Demenzerkrankung seines Vaters, seinem langsamen Vergessen, seiner Welt-Entrückung. Was anfangs wie eine neue Eigenheit wirkt, wird mit der Zeit zu einem Problem der ganzen Familie; aber es ergeben sich auch neue Facetten in der Persönlichkeit des alten Mannes, die das Zusammenleben so anstrengend wie auch (manchmal) faszinierend machen.

Das Angenehme dieses Buches ist die Art der Beschreibung des geistigen Verfalls: Genau, unaufgeregt, immer authentisch und nicht darauf abzielend, irgendeine Botschaft zu überbringen (wie das in zahllosen anderen Büchern der Fall ist, die sich diesem Thema widmen). Der Vater fühlt sich immer weniger zu Hause, selbst dort, wo er eigentlich zu Hause ist: Immer auf der Suche nach diesem “daheim” vermittelt sich diese Unruhe seiner Umgebung, das Verstörtsein ob einer Welt, die keine Geborgenheit mehr bietet und deren Bewohner zusehends fremd werden. Und es zeigt auch die Unbeholfenheit dieser Umgebung, die – immer kläglich scheiternden – Versuche, den Vater mit einer Realität zu konfrontieren, die die seine nicht mehr ist. Die Unfähigkeit, sich mit diesem “neuen” Menschen zu arrangieren, seine Vorstellung von der Wirklichkeit anzuerkennen, sind Anlass für zahllose Konfrontationen und für die – oftmals schon trivial anmutende – Tatsache, dass es die anderen sind, die an dieser Krankheit sehr viel mehr leiden als der Betroffene. Wobei dieser desto mehr darunter leidet, je weniger seine Umgebung davon Abstand nimmt, ihm immer und immer wieder eine Welt zu erklären, in der er nicht mehr lebt. Erst wenn man dieses Bemühen aussetzt, den Erkrankten nicht mehr von seinen Vorstellungen “heilen”, ihn zu einem anderen Empfinden überreden will, vermag eine neue, oftmals faszinierende Bindung zu entstehen.

Wie genau und treffend diese Schilderungen der Heimatlosigkeit sind, weiß ich aus eigener Erfahrung: Die Mutter, die mit leeren Augen in die Welt sieht, manchmal erkennt, zumeist aber bloß für den Augenblick existiert. Woran man nicht rühren soll: Denn die traurigsten Momente sind jene, in denen der Erkrankte eine gewissen Einsicht in seinen Zustand gewinnt, was mit Verzweiflung und tiefer Traurigkeit einhergeht. Es mag für die Umgebung schwer sein, einen Menschen bereits zu Lebzeiten zu verlieren, aber man kann sich und dem anderen diesen Verlust erleichtern, indem man sich in das Unvermeidliche schickt und sich bemüht, dem anderen seine zwar unbewusste, aber doch vorhandene Zufriedenheit nicht durch allzu vernünftiges Gerede zu zerstören. Ich bin ein großer Verfechter des “korrespondierenden” Wahrheitsbegriffes: Hier aber wird ein solches Bemühen und eine intersubjektiv vermittelbare Realität zu einer Qual für alle Beteiligten, es ist ein sinnloses Unterfangen und vermag das noch so kleine Glück (aber wer wollte schon wirklich beurteilen, welches Glück “klein” ist) zu zerstören.

Ein durchwegs wunderbares Buch, das allerdings gegen Ende mit Banalitäten aufwartet: “Schicksal war jahrtausendelang ein elementarer Begriff. Heute ist es fast verpönt, von Schicksal zu reden, alles muss erklärt werden. Aber manchmal kommt etwas auf uns zu, das wir nicht erklären und auch nicht aufhalten können. Zufällig trifft es die einen, die anderen zufällig nicht. Warum? Das bleibt ein Rätsel.” Mit Verlaub – das ist einfach nur hanebüchener Unsinn, es ist der überkommene Versuch, den “Zufall” oder das (noch) nicht Erklärbare durch ein metaphysisches Wirken zu erklären. Ist es tatsächlich Zufall (in quantentheoretischer Hinsicht), dann gibt es keine kausalen Erklärung, ist es das Zusammentreffen seltener Umstände, dann ist es nichts weiter als das (wobei ein solches Zusammentreffen sich zwangsläufig von Zeit zu Zeit ergeben muss). Dazu kommt, dass es immer bestimmte Ereignisse sind, die dann zur Schicksalsgläubigkeit führen. Dabei geschieht immer etwas, sodass im Grunde ständig das “Schicksal” auf uns einwirkt, daran erinnern wir uns aber nur dann, wenn die Ereignisse einen nicht üblichen Verlauf nehmen. Kaum jemand bedankt sich beim Schicksal, dass er mit dem Auto keinen Unfall hatte, er analysiert aber die vorangehenden Minuten, wenn dem so war (und wird unschwer einiges Schicksalhafte zutage fördern). – Solche Aussagen sind eines biligen Lebensratgebers würdig, muten aber verstörend an in einem Buch, das ansonsten äußerst einfühlsam und konzis beschreibt.


Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser 2011.

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