Selber Verlag (Reclam), selbe Übersetzerin (Eva Lüdi Kong), fast identische äusserliche Ausstattung und selbes Herkunftsland (China) wie die vor zwei Jahren erschienene Reise in den Westen – dennoch will mir scheinen, dass der Rummel um den 1000-Zeichen-Klassiker bedeutend kleiner ist und war, als der um jene Reise. Was wahrscheinlich daran liegt, dass sich auch Presse und professionelles Feuilleton von schierer Masse (Die Reise in den Westen umfasst in der deutschen Ausgabe beinahe 1’100 Seiten) mehr beeindrucken lassen als von filigraner Kleinarbeit (Der 1000-Zeichen-Klassiker weist gerade mal 155 Seiten auf).
Dabei stellt auch ein Werk wie dieses hier einen Übersetzer / eine Übersetzerin vor eine gewaltige Aufgabe. Um diese beurteilen zu können, muss man die Geschichte und Originalform dieses Buchs ein wenig kennen. Verdankenswerter Weise liefert uns Fr. Lüdi Kong diese in ihrer Vorbemerkung (und ich stütze mich jetzt ganz auf ihre Informationen und lasse, was z.B. in der englischsprachigen Wikipedia zu finden ist, beiseite): Entstanden ist Der 1000-Zeichen-Klassiker als Auftragsarbeit. Der chinesische Kaiser Wu (464-549) der Liang-Dynastie beorderte den Hofgelehrten Zhou Xingsi, aus einem Konvolut von Schriftzeichen, das für kalligraphische Ausbildung und Übungen erstellt worden war, einen zusammenhängenden Text […], der den jungen Prinzen auch zur geistigen Bildung gereichen würde, zu formen. Man mag, was nun entstanden ist, Kunst oder Kunsthandwerk nennen – wenn es Kunsthandwerk ist, ist es Kunsthandwerk in höchster Vollendung. Zhou Xingsi wählte 1’000 Schriftzeichen aus und ordnete sie so an, dass jeweils deren vier eine gereimte Strophe bilden (Reimschema meist, aber nicht immer: A, B, A, C). Jeweils zwei Strophen ergeben zusammen einen Sinnzusammenhalt; aber auch das ganze Werk tut das:
Ganz im Sinne des Bildungsauftrags behandelt der 1000-Zeichen-Klassiker das damalige Wissen um die Welt, einschließlich Himmels- und Erdkunde, Geschichte, Ethik, Gesellschaft, Kunst und Literatur, unterlegt mit zahlreichen Zitaten und Andeutungen auf Stellen aus bekannten Klassikern.
Wie soll so etwas übersetzt werden? Jedes Zeichen mit einem einzigen Wort zu übersetzen, würde zwar dem Original am nächsten kommen, aber ziemlich sicher müsste man auf den Reim verzichten. Auch wäre der Text wohl nur schwer verständlich. Eine umschreibende, längere Übersetzung würde zwar den Inhalt besser vermitteln und – wenn auch etwas gekünstelt – sogar die Reime wiedergeben können. Aber natürlich wäre der 1’000-Zeichen-Charakter des Originals in Geschwätzigkeit untergegangen. Die Frage, wie man alle Zitate und Anspielungen nachweisen sollte, wäre damit auch noch nicht gelöst – ausser, man machte den Text noch geschwätziger. Eva Lüdi Kong und der Verlag haben eine – ich verwende das Wort ungern, aber hier passt es nicht übel – geniale Lösung gefunden: Sie tun das eine, lassen aber das andere nicht.
Der Text ist so angeordnet, dass wir pro Doppelseite auf der rechten Seite in vier Kolonnen nebeneinander Folgendes finden: Im Zentrum stehen, untereinander angeordnet, wie es der alten chinesischen Schreibweise entspricht, die Originalzeichen (allerdings in Druckschrift, nicht in Kalligraphie – kalligraphische Beispiele finden wir reproduziert im Anhang). Links neben den Originalzeichen steht ein deutscher Begriff – derjenige, der der Hauptbedeutung des chinesischen Schriftzeichens am besten entspricht. (Diese Aneinanderreihung zu lesen, ist ganz interessant; das Gedicht erhält dadurch eine fast expressionistische Färbung.) Rechts neben den chinesischen Schriftzeichen finden wir deren moderne Umschrift, so dass wir auch die Originalreime nachvollziehen können. Rechts von dieser Umschrift dann eine etwas ausführlichere Übersetzung, die auch die Anspielungen und Zitate hereinholt und aus etwas mehr als nur einer Aneinanderreihung von Substantiven besteht, wie wir sie links aussen finden, die aber um der Präzision willen auf Reime verzichtet. Nun müssen die Anspielungen und Zitate natürlich noch erklärt werden. An der Stelle von Fuss- oder Endnoten haben sich Verlag und Übersetzerin dafür entschieden, diese auf dem linken Teil der Doppelseite zu liefern; begleitet von Illustrationen aus einer etwa 100 Jahre alten Edition des 1000-Zeichen-Klassikers.
Somit kann auch der Nicht-Sinologe des 21. Jahrhunderts diese Anspielungen entziffern. Es fällt dabei auf, dass – obwohl der Auftraggeber gemäss Lüdi Kong gläubiger Buddhist war – kaum oder gar keine buddhistischen Texte zitiert werden, sondern neben Daoistischem (Dao – der Weg – ist eines der 1’000 Zeichen) vor allem Konfuzius und dessen Meisterschüler Mengzi. Auch das Buch der Wandlungen (I Ging) fehlt nicht. Der konservative, staatserhaltende Touch, auf den der Auftrag ja auch hinzielte, ist natürlich dominant. Wer will, kann aber die 1’000 Zeichen auch einfach als Natur- und Lehrgedicht lesen; es finden sich – auch in der Übersetzung – starke lyrische Passagen.
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