Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso

Als Scherenschnitt schwarz auf weiß ein weiblicher Kopf (links) und ein männlicher Kopf (rechts), beide im Kostüm der Goethe-Zeit, der weibliche Kopf zusätzlich im Rankenwerk einer Pflanze. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Seltsamerweise ist Goethes Torquato Tasso auch über den Kreis der Germanistik hinaus recht bekannt. Bekannter jedenfalls als der Umstand, dass hinter der Figur des Goethe’schen Tasso ein real existierender und in seiner Heimat Italien nicht unbekannter Dichter der Renaissance-Zeit steht. Vermutlich liegt das daran, dass Goethes Schauspiel lange Zeit, wenn nicht heute noch, im Kanon der gymnasialen Schullektüre figurierte. Was nun seinerseits etwas Seltsames ist.

Denn, wenn es ein Drama Goethes gibt, das sich der Rezeption nicht sofort erschließt, dann ist es dieses hier. Goethes Iphigenie, die ungefähr zur selben Zeit entstanden ist (die 1780er Jahre) und ähnlich lange ‚ausgebrütet‘ wurde, wurde zum Schluss ein rundes Stück, das sowohl sprachlich mit seinen Blankversen gefällt, wie durch seine Handlung das Publikum zunächst in Spannung versetzt, dann mit der Auflösung den Humanismus Goethes auf Schönste demonstriert, der bezeichnend für dessen frühe klassische Epoche ist.

Torquato Tasso aber ist sperrig. Zwar finden wir auch hier in der Schlussversion Blankverse (eine Schlussversion, die, wie bei der Iphigenie, eine Prosaversion ersetzt). Aber wo die Verse der Iphigenie Leben atmen, weil sie auch nicht immer ganz perfekt sind, sind die des Tasso nahezu perfekt. (Was zum Beispiel Brecht zu seinem Urteil brachte: Selbst in Meisterhänden vergewaltigt der regelmäßig gebaute Jambus Sprache und Gestus. Womit er so Unrecht nicht hat. Ich erinnere an die seitenlangen im Jambus gehaltenen Abschnitte in Karl Mays Spätwerk, die Arno Schmidt als hohe Kunst betrachtete. Aber Schmidt war, im Gegensatz zu Brecht, kein Lyriker und spürte das Ermüdende des Jambus offenbar nicht.)

1780 hat Goethe den Tasso begonnen, 1789 erst beendet. Am Anfang stand in vieler Hinsicht also noch der Sturm und Drang, dazwischen lag die Italienreise, aber noch am Ende, als Goethe bereits in seine klassische Epoche mündete, blieben Eierschalen des Sturm und Drang an diesem Tasso hängen. Vermutlich hätte Goethe das Schauspiel nochmals und vielleicht für immer beiseite gelegt, wenn da nicht die Werkausgabe von 1790 gewesen wäre, für die er und sein Verleger noch dringend neuen Stoff brauchten – als Verkaufsargument. Ähnlich verfuhr er ja mit dem, was später der erste Teil des Faust werden sollte. Leider (für die Literaturwissenschaft) haben wir von Tasso keinen Prosa-Entwurf überliefert – so, wie wir sie von der Iphigenie und dem Faust haben. Wir können also nur mutmaßen, wie ein Ur-Tasso ausgesehen haben könnte.

Für meinen Teil bin ich sicher, dass da noch viel mehr drin gewesen sein muss von dem, was spätere Zeiten als ‚Original- oder Kraftgenie‘ aufgenommen haben. Vielleicht auch mehr Autobiografisches – denn natürlich erinnert die Position des erst kürzlich in den Adel erhobenen Tasso am Hof seines Gönners Alfons II. von Ferrara in vielem an die Goethes am Weimarer Hof. Ob wir die Liebe zur Schwester des Herzog vergleichen dürfen mit der Liebe (wenn es eine war) Goethes zur Frau von Stein, scheint mir schon wieder fraglich. Aber dass sich Tasso am Hof nicht ganz ernst genommen fühlt, könnte durchaus mit Goethes eigenen Erfahrungen in Zusammenhang stehen.

Goethes Tasso präsentiert sich in der überlieferten Version eine Art selbstzweiflerisches Genie – eines, das sich selbst zerfleischt. Tatsächlich war der echte Tasso ebenso wie sein Goethes Figur in diesem Drama ein sehr misstrauischer Mensch. Ständig und überall fühlte er sich verfolgt, zurückgesetzt, nicht für voll genommen. Goethes Tasso ist zusätzlich unsicher, wo er geht und steht. Selbst in seiner Kunst, die er einerseits hoch ansetzt, glaubt er andererseits, noch besser werden zu können und zu müssen. Deshalb will er auch vom Herzog Urlaub, um nach Rom reisen zu können, wo damals die bekanntesten Kunst- und Sprachrichter der Zeit lebten. Er will mit ihnen zusammen sein Meisterwerk, Das befreite Jerusalem, noch einmal überarbeiten, obwohl er am Hof, von der Schwester des Herzogs (allerdings informell) dafür bereits eine von ihr selbst geflochtene Dichterkrone erhält, die sie gerade eben der Büste des Vergil aufs Haupt gesetzt hatte.

Das Stück hält sich, schon fast im Stil des französischen Klassizismus, an die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung. Nur bei der Einheit des Ortes schummelt Goethe ein bisschen, indem er den Ort ausdehnt auf verschiedene Teile des herzoglichen Lustschlosses Belriguardo. (Goethe, nebenbei, hat zwar Ferrara besucht und dort auch das angebliche Gefängnis Tassos, er hat eine Totenmaske des Dichters gesehen – Belriguardo, obwohl er ganz in der Nähe vorbei kam, sah er nicht an. Was, nebenbei im nebenbei, auch beweist, dass es sein Stück nie ein Historiendrama werden sollte, auch wenn die Dramatis personae alle existiert haben.) Goethe weicht dann auch da von Aristoteles ab, wo sein Held keine Katharsis erlebt – und diese somit auch dem Publikum vorenthält. Tasso wird zum Schluss nach wie vor versuchen, Weltmann zu sein und Dichter:

Zerbrochen ist das Steuer und es kracht
Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt
Der Boden unter meinen Füßen auf!
Ich fasse dich mit beiden Armen an!
So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.

Verse 3448-3453


Erst ab 1794, mit Schiller, fand Goethe-Tasso den Weg vom Felsen herab, an dem er Schiffbruch erlitten hatte.


Meine Ausgabe ist Band 6 des unveränderten Nachdrucks der Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag 1949, herausgegeben von Ernst Beutler unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, 2. Auflage Zürich 1961-1966. Darin sind es die Seiten 213-314, unmittelbar nach der Iphigenie

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