Im Jahre 410 u.Z. drangen die Westgoten auf ihren Wanderungen bzw. Beutezügen bis zur Stadt Rom vor, die sie sogar eroberten und plünderten. Das stellte zwar noch nicht ganz das Ende des Weströmischen Reichs dar, hätte aber eine riesige Alarmglocke zum Läuten bringen sollen. Anstatt sich aber zusammen zu reißen und sich neu zu organisieren, gaben sich viele in der römischen Bevölkerung lieber seltsamen Verschwörungstheorien hin. (Ja, auch schon die Antike kannte so etwas!) Man sah im Umstand, dass die Christen, die damals ungefähr 10-15% der weströmischen Bevölkerung ausmachten, mit ihrer Weigerung, die alten Götter zu verehren, diese verärgert hätten, den Grund dafür dass diese beschlossen hätten, ihre schützende Hand von Rom abzuziehen, womit Rom ins Verderben stürzte.
Das war der Stand der Dinge, als der Bischof von Hippo Regius, Aurelius(?) Augustinus, beschloss, den vorliegenden Text zu schreiben. Er schrieb über Jahre daran, was z.B. erklärt, warum praktisch jedes Buch mit einer Zusammenfassung des oder der vorher gehenden einsetzt. Wie weit die Struktur des Ganzen ein von Anfang an vorbedachter Plan war und wie weit sie sich unterm Schreiben ergab, kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist, dass zum Schluss 22 Bücher unter dem Titel De civitate Dei entstanden sind. Sie werden üblicherweise in zwei Teile unterteilt, und der erste davon wiederum in zwei Unterteile. Die Bücher 11-22 werde ich später vorstellen.
Augustinus geht im Prinzip auf die übliche Weise vor, die man auch heute noch anwendet, um Verschwörungstheorien zu entgegnen. Er weist, ganz Rationalist, darauf hin, dass seit jeher nicht nur böse sondern auch gute Menschen ins Unglück geraten sind (Buch 1). Insbesondere tröstet er jene ehrbaren Frauen und Töchter, die das Unglück hatten, vergewaltigt zu werden, darüber hinweg, indem er festhält, dass ein gegen den eigenen Willen erfahrener Sexualakt die Ehrbarkeit oder Jungfräulichkeit der Frau in keiner Art und Weise tangiert. Deswegen Selbstmord zu begehen oder diesen Selbstmord sogar zu loben, wie es im antiken Rom üblich war, hält er aber für eine Sünde. Auch ein Selbstmord ist für ihn Mord – eine Haltung, an der die katholische Kirche, wenn ich recht informiert bin, bis heute festhält. In Buch 2 hält Augustinus fest, dass gerade der Dienst an den alten Göttern die Quelle von Korruption war, in Buch 3 dann, dass die alten Götter immer und immer wieder verfehlt haben, Rom vor Gefahren zu beschützen (hier stützt er sich breit ab auf die Historiker Sallust und Livius, verschmäht aber auch Vergils Aeneis nicht als Quelle oder die Ilias des Homer). Daraus schließt er in Buch 4, dass es eben gerade nicht die alten Götter waren, die den römischen Staat so lange erhalten haben, sondern der christliche Gott. In Buch 5 widerspricht er auch der Theorie eines unabänderlichen Schicksals (fatum), das alles vorher bestimme. (Nebenbei versucht er auch, die Allmacht Gottes zu retten, der – wenn er allmächtig ist – ja auch das Schicksal des Menschen vorher bestimmen müsste. Augustinus aber verteidigt den freien Willen des Menschen mit dem Argument, dass Gott zwar alles vorher wisse, aber nicht vorherbestimme.)
Nachdem er sich in den ersten fünf Büchern mit der praktischen Religionsausübung des antiken Rom beschäftigt hat (und sich nebenbei lustig macht über die im Lauf der Jahrhunderte entstandenen Spezialgöttinnen und -götter, die winzig kleine Gebiete des menschlichen Lebens bewachen sollten – es gab z.B. einen Gott der Türangel, einen der Türklinke und eine Göttin der Türschwelle, die im Grunde genommen nur Unteraufgaben ausübten des Gottes Janus, der der Gott des Eingangs und des Ausgangs war) – nach der praktischen Religionsausübung also geht Augustinus in den folgenden fünf Büchern auf die theoretische Religion ein – auf die (heidnische) Religionsphilosophie oder Theologie, je nachdem, wie man es nennen will. Er verwirft gleich im Vornherein alle antike Religionsphilosophie, weil keiner der antiken Götter seiner Meinung nach die Erlangung des – ewigen Lebens garantieren kann. Dass er der antiken Philosophie – Platon, Jamblich, Apuleius, Varro, Cicero – etwas vorwirft, das sie tatsächlich gar nie als Ziel eines guten Lebens angesteuert hat (sie hat allenfalls über die Seelenwanderung diskutiert, die Augustinus seinerseits selbstverständlich sofort verwirft), scheint unseren guten Bischof nicht zu kümmern. Aber dazu ist zu sagen, dass er zum Beispiel Platon nur aus Exzerpten und Zusammenfassungen Dritter kannte – oder als weiteres Beispiel Epiktet, den er als vorchristliches Beispiel christlichen Denkens rühmt, nur aus einem Auszug des Aulus Gellius (der seinerseits Epiktet völlig falsch wiedergibt). Nachdem Augustinus schon vorher die antiken Götter zu Dämonen degradiert hat, muss er nun nur noch des Apuleius Ansicht zurückweisen, man müsse zu den Dämonen beten, weil der oberste Gott oder die obersten Götter nicht direkt mit den Menschen in Verbindung träten, und auch den Unterschied zwischen Engeln und Dämonen klar machen. (Und nein: Auch zu den Engeln betet man nicht!) Augustinus’ Theologie ist noch sehr rudimentär, wenn man ihn mit den fein ziselierten und ungeheuer ausgearbeiteten Konstruktionen der mittelalterlichen Scholastik vergleicht, aber er hat in vielem die Doktrin(en) vorformuliert, die auch jene Späteren nicht abzuändern wagten. Es geht ihm in den ersten zehn Büchern nur nebenbei um Fragen der Theologie, wichtig war ihm zu beweisen, dass a) die alten Götter Mumpitz sind und b) nur der christliche Gott (und der dafür ohne weitere Vermittler!) für den Menschen relevant ist. Natürlich unterläuft ihn dabei der klassischen Fehlgriff, was er den antiken Göttern als Fehler ankreidet, dem christlichen Gott als Absicht zu unterstellen, der Menschen leiden lässt, um sie zu prüfen. Und wenn er sich über die Unzahl der im Lauf der Jahrhunderte entstandenen antiken Götter lustig macht, wird man heute unweigerlich an die Unzahl katholischer Heiliger denken, die zum Teil genau so ihre winzig kleinen Spezialgebiete überwachen wie die antiken Vorbilder. Dass die Reformation (wenn ich mich recht erinnere) gern auf diese Passagen aus Augustinus zurückgegriffen haben, um die schier endlose Multiplikation der katholischen Heiligen anzuprangern, wird wohl niemand wundern.
Der erste Teil des Gottesstaats enthält also noch praktisch nichts von eben diesem Gottesstaat, sondern beschäftigt sich zunächst damit, die Verhältnisse hier auf Erden zu sortieren und den Kritikern des Christentums den Wind aus den Segeln zu nehmen.
1 Reply to “Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Buch 1-10”