Stephen Jay Gould: The Panda’s Thumb

Links sieht man einen kleinen hellblauen Streifen, das ist der Büchrücken. Der Rest des Bildes zeigt auf schwarzem Hintergrund in Blautönen eine Röntgenaufnahme eines "Nautilus" (auf Deutsch: Gemeines Perlboot). Darüber ist in Rot das Goldene Ratio-Zeichen gedruckt, auch bekannt als logarithmische Spirale im Rechteck, Nautilus-Muschelform oder Leonardo Fibonacci Sequenz. Wir sehen im vorliegenden Ausschnitt aus dem Buchcover nur den Mittelpunkt der beiden Figuren.

The Panda’s Thumb ist 1980 erschienen (auf Deutsch als Der Daumen des Panda 1987). Darin hat Stephen Jay Gould in 8 Kapiteln 31 Essays zu evolutionsbiologischen und verwandten Themen versammelt, die er in den Jahren zuvor in verschiedenen populärwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatte. Dieses Jahr (2024) ist das Buch noch einmal bei der Folio Society in London aufgelegt worden, mit einem speziell dafür kommissionierten Vorwort von Steve Brusatte. Diese Zahlen deuten es schon an: Diese Aufsätze hier sind nun bald ein halbes Jahrhundert alt. Dass sie dennoch immer noch auf spezielle Weise aktuell sind, liegt weniger an ihrem eigentlichen Inhalt als an der Methode, die Gould bei jedem einzelnen Aufsatz anwendet.

Der Aufsatz, der dem ganzen Buch den Titel gegeben hat, ist zugleich eine gute Einleitung in eines der wichtigen Themen Goulds: die Evolution. Er beginnt mit dem Hinweis, dass der Große Panda-Bär, dessen Leben praktisch nur daraus besteht, die Halme von Bambus zu fressen, zu schlafen und sich fortzupflanzen, diese Bambushalme vor dem Fressen entblättert. Dazu verfügt er über ein Organ, das auf den ersten Blick aussieht wie ein Daumen. Es ist aber nicht der Daumen; der ist beim Panda dort, wo alle anderen Finger auch sind. Was der Panda hier abspreizen und als Schälmesser verwenden kann, ist auch kein sechster Finger. Es sind Mittelhandknochen und -muskeln, die eine völlig neue Funktion übernommen haben. Das ist für Gould eines der Killer-Argumente gegen das so genannte ‚intelligent design‘. Denn ein intelligenter Ingenieur hätte doch, so Gould, dieses Bambushalme schälende Organ von Grund auf neu gestaltet und nicht eine umständliche Lösung mit den bestehenden Bauteilen gesucht. Dass dies nicht geschehen ist, zeigt ihm, dass Evolution eben kein zielgerichteter Prozess war und ist, der vom einfachen Einzeller hin zum (beispielsweise) jenem komplizierten Organ führte, das wir unser Hirn nennen.

In diesem Zusammenhang wird auch der Begründer des Darwinismus kritisiert, Darwin selber. Nicht nur, aber auch aus dem ‚Daumen‘ des Panda schließt Gould, dass Mutationen immer sprunghaft und zufällig sind, nicht zielgerichtet, aber bereits vorhandenes Material verwendend. Darwin und, ihm folgend, die Evolutionsbiologen bis in die 1960er vertraten die Meinung, dass Evolution immer graduell und teleologisch erfolge. Dass so gar keine Zwischenstufen (zum Beispiel als Versteinerungen) zu finden waren, schoben sie auf die Zufälle der fossilen Überlieferung. Heute ist die Wissenschaft meines Wissens gänzlich der Meinung Goulds.

Ein anderes für Gould wichtiges Thema ist der Umstand, dass in vielen Fällen Wissenschaft bewusst oder unbewusst auch für ideologische Ziele zweckentfremdet wird. Ein Paradebeispiel sind für ihn die lange als gültig erachteten Forschungsergebnisse, nach denen Männer größere Schädel und mehr Hirnmasse aufweisen als Frauen, und Weiße als Farbige. Gould nimmt sich die Mühe, diese Forschungsergebnisse nicht einfach beiseite zu schieben, sondern in mühsamer Kleinarbeit nachzuvollziehen und nachzurechnen. Vor allem aber wird er die methodologischen Fehler suchen, die gemacht worden sind. Im gerade angesprochenen Fall ist es zum Beispiel der Umstand, dass die Forscher (es waren weiße Männer!) zur Messung Tote aus Verkehrsunfällen und von Altersheimen genommen haben. Nun waren aber schon in den 1940ern und 1950ern mehr junge Männer Opfer von Verkehrsunfällen als junge Frauen, während umgekehrt die Frauen in den Altersheimen bedeutend älter wurden als die Männer. Man verglich also, vereinfacht gesagt, junge Männer mit alten Frauen – und das, obwohl man damals schon wusste, dass das Hirnvolumen im Alter abnimmt. Es war ein – vielen Forschern vielleicht nicht einmal bewusstes – Verdrehen der Fakten, das Jahrzehnte lang zur Annahme geführt hatte, Männer seien intelligenter als Frauen.

Noch ein anderer Fall ist die Erkrankung an Trisomie 21 bzw. die alte Benennung dieser Krankheit als „Mongoloismus“. Denn, so Gould, objektiv betrachtet, sehen die Gesichter der Betroffenen keineswegs mongolisch bzw. asiatisch aus. Die wenigsten weisen die sichelförmige Hautfalte am inneren Randwinkel des Auges auf, die uns ein Auge als asiatisch klassifizieren lässt. Es war purer Rassismus von John Langdon Down, der ihn eine Ähnlichkeit in Gesichtszügen und Hautfarbe seiner Trisomie 21-Patienten mit Leuten asiatischer Herkunft sehen ließ.

Ein eklatantes Beispiel, wie rassistisch und nationalistisch motiviertes Wunschdenken die Köpfe von Fachmännern vernebeln kann (ein Fall, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte), ist der so genannte Piltdown-Mensch. Es handelt sich um die größte paläoanthropologische Fälschung der Wissenschaftsgeschichte. Charles Dawson, Rechtsanwalt und Fossiliensammler, wollte zwischen 1908 und 1913 in einer Kiesgrube beim englischen Dorf Piltdown Teile eines alten Schädels und eines Unterkiefers gefunden haben, die zusammen gehörten. Der Schädel hatte schon ganz die Form, die ein Schädel des Homo sapiens sapiens aufweist, der Unterkiefer aber erinnerte an einen Affen. Die führenden englischen Paläoanthropologen stiegen auf den ‚Hoax‘ ein. Sie glaubten, dass hier Überreste eines vorher unbekannten Frühmenschen gefunden worden waren, und nannten ihn, höchst poetisch, zu Ehren seines Entdeckers ‚Eoanthropus dawsoni‘ (etwa „Dawsons Mensch der Morgenröte“). Obwohl es schon immer kritische Stimmen gab, wurde bis in die 1950er an diesen Frühmenschen geglaubt. Erst die Möglichkeit, an Hand von Isotopen-Messungen das korrekte Alter von Knochen zu bestimmen, beendete dessen Karriere. Beide Teile waren künstlich bearbeitet, um alt auszusehen; in Tat und Wahrheit waren beide Teile des ‚Eoanthropus dawsoni‘ etwa 400 Jahre alt und bestanden aus einem ganz gewöhnlichen Menschenschädel und einem Kiefer eines Orang Utan, dessen Zähne man so abgefeilt hatte, dass sie aussahen wie normal abgenutzte menschliche Zähne. Warum aber glaubten die englischen Wissenschaftler so lange an ihren Frühmenschen? Warum stutzten sie nicht schon viel früher ob des Umstands, dass vom Kiefer genau der Teil fehlte, mit dem er mit dem restlichen Schädel verbunden gewesen war? (Wäre der Teil mitgeliefert worden, hätte man sofort gesehen, dass die beiden Knochen nichts miteinander zu tun hatten – man kann keinen Orang Utan-Kiefer an einen Schädel eines Homo sapiens sapiens montieren.) Warum? Ganz einfach: Es waren damals erst wenige Fossilien von Hominiden bekannt – der Neandertaler, noch ein oder zwei Deutsche und Franzosen, der Java-Mensch. Hier aber hatten die Forscher den Beweis, dass es auch in England Frühmenschen gegeben hatte – und dann noch welche, die ganz, ganz nah am modernen Menschen gestanden hatten. England als die Wiege des modernen Menschen! Der britische Patriotismus blendete offenbar auch berühmte Persönlichkeiten. (Goulds Versuch hingegen, einen Teil, vielleicht gar den größten, der ‚Schuld‘ an dieser Fälschung dem ebenfalls anwesenden jungen Jesuiten Teilhard de Chardin zuzuweisen, halte ich für misslungen. Goulds Argumentation beruht auf einer Gedächtnis-Fehlleistung des Franzosen, die ihm in einem Gerichtssaal jeder Anwalt um die Ohren schlagen würde.)

Es hat auch weniger ernsthafte Texte in dieser Sammlung. Eine biologische Hommage an Mickey Mouse zum Beispiel, in der Gould darlegt, wie diese Zeichentrickfigur Walt Disneys im Laufe ihrer Existenz immer freundlicher und umgänglicher geworden ist und gleichzeitig in ihrem Aussehen immer kindlicher. Vielleicht, so spekuliert er, ist Mickey Mouse ein paradigmatisches Beispiel für den Menschen, der – im Verhältnis zu seiner Körpergröße – ungewöhnlich alt wird. Vielleicht hat auch die Gattung Mensch ein Art Kindheitsgen, das ihn jünger hält als er es nach den üblichen biologischen Normen der Fall wäre?

Es gibt vieles in diesem Buch – noch mehr, als ich hier skizziert habe. Einiges ist unterdessen wissenschaftlicher Standard geworden, anderes ist zwar witzig, aber überholt, und dann gibt es noch immer das eine oder andere, über das wir uns auch heute, 50 Jahre später, noch keine definitive Meinung bilden können.

Eine Lektüre dieses Buchs aber lohnt so oder so.

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