Thomas Hardy: Jude the Obscure

Jahre sind’s seit meiner letzten Lektüre von Jude the Obscure. Ich wusste zwar, dass der Roman gut ist; dass er so gut ist, hatte ich vergessen.

Den Inhalt des Romans brauche ich hier nicht zusammen zu fassen. Wer ihn nicht kennt, mag ihn bei Wikipedia nachlesen, oder – besser noch – liest gleich den Roman.

Jude, die Titelfigur, ist eine wahrhaft tragische Gestalt. Dadurch, dass er immer und immer wieder in den Willen seiner beiden Frauen einwilligt, macht er nicht nur sich, sondern auch die beiden unglücklich. Hardy beschreibt mit Jude als einer der allerersten Autoren die Figur eines Intellektuellen, der aus äusserst bescheidenen Verhältnissen stammt, und den diese Verhältnisse zuletzt daran hindern, sich tatsächlich als Intellektueller zu verwirklichen, zum Beispiel eine Professur an der Universität zu erhalten oder auch nur eine klitzekleine Pfarre auf dem Land. Statt dessen verbringt Jude einen grossen Teil seines Lebens als Steinmetz mit Reparaturarbeiten an Kirchen und Kathedralen. Diese Arbeit wird auch die Ursache seines frühen Todes mit vielleicht gerade mal 30 Jahren, da der Steinstaub, den er täglich einatmet, seine Lunge unwiederherstellbar beschädigt.

Jude the Obscure ist Hardys grosser Angriff auf die (anglikanische) Kirche und auf die von ihr propagierte und den einfachen Leuten eingeimpfte (Sexual-)Moral. Das demonstriert Hardy vor allem an den beiden Frauengestalten des Romans:

Da ist Arabella Donn, die erste Frau Judes, die er noch als Steinmetzlehrling heiratet, weil sie vorgibt, von ihm schwanger zu sein. Für diese lebens- und sinneslustige Frau sind die moralischen Vorstellungen der anderen immer nur der Ansatzpunkt, über den sie erreicht, was sie von ihnen will – ein weiblicher Sexual-Archimedes, so zu sagen. Auf der andern Seite des Spektrums steht Sue Brideshead, Judes Cousine und seine grosse Liebe. Offenbar frigid, kann sie sich lange nicht entschliessen, das geistige Band, das sie mit Jude verbindet, auch körperlich zu bestätigen. Als schliesslich die Früchte dieser körperlichen Bestätigung, ihre gemeinsamen Kinder, umgebracht werden, verfällt sie in einen religiösen Wahn und bildet sich ein, das wäre eine Strafe Gottes gewesen für ihren unsittlichen Lebenswandel. Reumütig geht sie zu ihrem ersten Mann zurück – und wird dort unglücklich.

Der Roman ist in der auktoriellen Form geschrieben. Hardy lässt es dabei durchaus nicht an feinen ironischen Spitzen fehlen, beschreibt aber neutral und emotionslos. Das macht diese Abrechnung mit der viktorianischen Welt umso brutaler. Und man soll jetzt nicht denken, dass die Themen von Jude the Obscure uns im 21. Jahrhundert nichts mehr angehen. Zum einen hat die Sexualmoral nur in wenigen Punkten und an wenigen Orten der Welt wirklich geändert (und ist auch dort in ihrem Anderssein fragil). Zum andern sind die Probleme in ihren Beziehungen, die Hardys Männlein und Weiblein so haben, mutatis mutandis nach wie vor aktuell.

Fast ganz zum Schluss des Jahres 2018 also noch ein absolutes Highlight. Wäre ich jene ‘Literaturkritikerin’ und wäre ich im Fernsehen, würde ich dem Publikum nun auch das Buch hinstrecken und „Lesen!“ schreien. So kann ich nur hoffen, das der eine oder die andere dieses Aperçu liest…

3 Replies to “Thomas Hardy: Jude the Obscure”

  1. So ganz kann ich deine Begeisterung nicht teilen: Nein, kein schlechter Roman, aber – m. E. – nichts, was zu solchem Lob Anlass geben würde. Wobei Religions- und Gesellschaftskritik sehr viel besser gelungen sind als die Kritik der Sexualmoral. Natürlich waren Hardy in der Darstellung enge (puritanische) Grenzen gesetzt, aber wie er aus der überspannten, klugen, wenn auch unsicheren Sue durch eine mehr als groteske Katastrophe (der 8jährige Sohn ermordet die beiden kleinen Geschwister und erhängt dann sich selbst) eine durchgeknallte, bigotte Religionsfanatikerin macht, ist mehr als fragwürdig. Dieser verzweifelte Versuch, den Ansprüchen der Gesellschaft doch noch Genüge zu tun, wirkt auf mich hilflos, auch ist mir nicht klar, was er damit zum Ausdruck bringen wollte (denn der Druck, der auf dem Liebespaar aufgrund der Konventionen lastete, auch auf Phillotson, wird schon zuvor zum Ausdruck gebracht und bräuchte eine derartige Unterfütterung kaum). Sue zerbricht an diesem Druck, aber das _wie_ dieses Zerbrechens will mir nicht gefallen, die Geschichte kippt dadurch ins Skurrile. Arabella ist als Person sehr viel besser gelungen, die ist stimmig, aus Fleisch und Blut im wahrsten Sinne des Wortes. Und auch das Scheitern von Jude an seinem Traum von Bildung, Aufstieg etc., die Erkenntnis, dass er einer Illusion nachgejagt ist, ist eindringlich dargestellt (solche Träume von der Universität als einem Hort von Wissen und Integrität hat auch ein Franz Innerhofer vor 50 Jahren noch beschrieben: Nur dass ihm die Ernüchterung durch Teilnahme am akademischen Leben zuteil wurde).

    Ein Wort noch zur Übersetzung durch Alexander Pechmann (in meinem Band): Ich halte es für problematisch, die umgangssprachlichen Stellen in einem verqueren österreichischen Dialekt wiederzugeben (der eine ganz eigenartige, hybride Mischung ist, die man so nirgendwo finden wird). Natürlich ist Österreich der Mittelpunkt der Welt, zumindest der deutschsprachigen: Aber derlei wirkt immer künstlich und nicht wirklich eingängig. (Würden die Personen berlinern oder schwäbeln – es wäre dasselbe: Nämlich fragwürdig. Einen flapsigen Tonfall zu treffen ohne jedes Lokalkolorit ist schwer, sollte aber Ziel solcher Übersetzung sein.)

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