Zusammen mit dem vier Jahre später erschienenen Jude the Obscure stellt dieser Roman von 1891 Hardys grosse Abrechnung mit dem viktorianischen Purismus, der rigiden Sexualmoral seiner Zeit, dar. Es gibt allerdings Unterschiede, die machen, dass zumindest ich für meinen Teil Jude bedeutend lieber mag als Tess.
Die Unterschiede werden schon auf dem Titelblatt deutlich, das da lautet:
Tess of the d’Urbervilles
A Pure Women
Faithfully Presented by
Thomas Hardy
‚… Poor wounded name! My bosom as a bed Shall lodge thee.‘ – Shakespeare
Wir haben in beiden Romanen einen auktoriellen Erzähler vor uns. In Jude aber bleibt dieser Erzähler – von ein paar kleinen ironischen Stichen vor allem gegen den jungen und naiven Jude und seine bauernschlaue erste Frau Arabella abgesehen – neutral und hält sich weitestgehend derart im Hintergrund, dass man seine Existenz vergisst. Das macht die im Roman erzählten Ereignisse gerade so schrecklich, macht den Roman so eindrücklich.
In Tess nimmt der auktorielle Erzähler von Anfang an Stellung. Von Anfang an ist klar, dass die reine Frau Tess Durbeyfield das unschuldige Opfer sein wird. Gerade zu Beginn des Romans lässt der Erzähler immer wieder Andeutungen fallen, wie schlimm die Geschichte für Tess ausgehen wird und wie sehr Tess zu bemitleiden ist. Das kann man mögen (die grosse Zahl der Adaptionen für Film und TV, die der Roman gefunden hat, zeigt, dass Tess im Publikum sehr beliebt ist); mein Geschmack ist ein auktorieller Erzähler, der meine Gedanken und Gefühle in eine bestimmte Richtung drängen will, nicht. Wenn Hardy die Sexualmoral des viktorianischen Zeitalters an den Pranger stellt, tut er das hier mit dem viktorianischen Mittel der Sentimentalität – hierin an den mittleren Dickens gemahnend. (Den ich auch nicht mag.)
Es kommt hinzu, dass – während die Ereignisse in Jude den Eindruck vermitteln, alle ’natürlich‘ aus den Gegebenheiten und den Charakteren der Protagonisten herausgeflossen zu sein – Hardy in Tess Unwahrscheinlichkeiten auf Zufälle und Zufälle auf Unwahrscheinlichkeiten häuft. Schon der Initialfunke, jener Pastor der Tess‘ Vater davon erzählt, dass er eigentlich der letzte der ansonsten ausgestorbenen Familie der d’Urbervilles sei, und damit in Vater und Mutter die letzten Endes für die Tochter verderbliche Hybris eines sinnlosen Adelsstolzes weckt – schon dieser Pastor ist unwahrscheinlich. Sicher, es gab und gibt sie, diese Hobby-Genealogen und -Historiker, auch und gerade unter Landpfarrern. Aber warum sollte sich dieser hier mit der Geschichte einer ausgestorbenen Familie ehemals normannischer Ritter beschäftigen? Und, wenn er denn dem alten Durbeyfield schon solche Mären erzählt: Warum verheimlicht er ihm, dass es in der benachbarten Stadt durchaus eine Familie d’Urbervilles gibt? Er weiss nämlich davon, gibt der Erzähler zu; er weiss auch, dass diese d’Urbervilles Emporkömmlinge sind, zu Geld Gekommene (mit welchen Mitteln wird nicht gesagt), die den erloschenen Titel gekauft und so neu belebt haben. Die Durbeyfields aber glauben, hier einen echten, alten Zweig ihrer Familie vor sich zu haben, und versuchen, sich ihm anzunähern.
Das legt denn auch definitiv den Grundstein zu Tess‘ Verderben. Der junge d’Urberville aus der Stadt nämlich entpuppt sich gleich zu Beginn als unsympathischer Grobian. Er beleidigt Tess zunächst mit Worten, später vergewaltigt sie gar und lässt sie mit einem Kind sitzen. (Das stirbt zwar rasch, aber letztlich ist es diese Geschichte, die – als sie Tess ihrem frisch angetrauten Mann Angel beichtet – diesen noch in der Hochzeitsnacht von ihr entfremdet. Angel ist – entgegen seinem Namen – nicht in der Lage, über seinen Schatten als viktorianischer Mann zu springen und Tess ebenso zu verzeihen, wie sie ihm zuvor eine gebeichtete voreheliche Affäre verziehen hat.) Dieser Alec d’Urberville ist ein eigentlicher Bösewicht, wie er im Buche steht. Wie er eben vor allem nur im Buche steht. Mit dieser Figur stellt sich Hardy völlig in Dickens’sche Tradition. Dass er nicht nur später in Jude, sondern auch schon früher im Mayor of Casterbridge auf einen Bösewicht unter den Protagonisten verzichtete, zeigt, dass Hardy sehr wohl anders, besser, konnte.
Zu sentimental für meinen Geschmack, zu sehr mit immer wieder auftauchenden Vorzeichen beladen, mit einem rabenschwarzen Bösewicht, den Hardy schon auf den ersten Seiten hätte umbringen sollen, mit einer Häufung von Zufällen, die den Leser verblüffen und – wohl ganz entgegen Hardys Absicht – an einen bösen Gott glauben lassen, der alles unternimmt, um Tess (wie seinerzeit Hiob) unglücklich zu machen. Dennoch – und das zeugt für die zu Grunde liegenden Qualitäten als Erzähler, die Hardy nun einmal hat – durchaus zu Recht einer der bekanntesten Romane von ihm und damit der Weltliteratur.