Paul Lendvai: Orbáns Ungarn

Paul Lendvai ist ein österreichischer Journalist mit ungarischen Wurzeln, der 1956 beim Ungarnaufstand unter jenen 200 000 Flüchtlingen war, die es über die Grenze in den Westen schafften. Er gilt als profunder Kenner der politischen Verhältnisse der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und war jahrelang beim ORF Leiter der Osteuropa-Redaktion; 2010 wurde er mit Vorwürfen konfrontiert, dass er während seiner journalistischen Tätigkeit als Korrespondent das kommunistische Kadar-Regime mit Informationen versorgt habe (inwieweit diese Vorwürfe zutreffen – Lendvai weist sie zurück – vermag ich nicht zu beurteilen).

Das vorliegende Buch ist eine historische Aufarbeitung der postkommunistischen Zeit bis 2016. Ungarn, das wirtschaftlich (abgesehen von der DDR) immer als führendes Land des Ostblocks galt, ist vor 8 Jahren nur knapp dem Staatsbankrott entgangen und mittlerweile von allen anderen ehemaligen Ostblockstaaten mit Ausnahme Bulgariens in Bezug auf die Wirtschaftsleistung überholt worden. Dies ist keineswegs nur eine Folge des Orbán-Regimes (der nicht erst seit 2010 regiert, sondern auch zwischen 1998 und 2002 Ministerpräsident war), sondern auch durch die völlig unfähigen und korrupten linksliberalen Regierungen verursacht worden. Wobei die Korruption in Ungarn zwar nicht unbedingt sehr viel höher ist als in vergleichbaren Staaten, kurioserweise aber eine sehr viele höhere Akzeptanz besitzt. (Persönlich habe ich einen ganz ähnlichen Eindruck von ungarischen Bekannten gewonnen: Man versucht die politischen Verhältnisse geflissentlichen zu ignorieren, erwartet von einem etwaigen Regierungswechsel keine Verbesserungen und findet sich mit den Missständen ab, als wären sie von einer höheren Macht verhängt.)

Trotz dieser fortgesetzten politischen Misere hat das Missmanagement und die Vetternwirtschaft unter Orbán in den letzten 8 Jahren einen neuen Höhepunkt erreicht: Pfründe werden unter den Parteigängern unverfroren verteilt, eine freie Presse durch den Entzug von Werbeeinnahmen unmöglich gemacht (fast alle großen Unternehmungen sind von der Regierung abhängig und daher auch von ihrem Wohlwollen, die Partei Orbáns (Fidesz) kontrolliert dadurch den Werbemarkt), unzählige Gesetze wurden in den Verfassungsrang erhoben (durch die Zwei-Drittel-Mehrheit war derlei möglich geworden), wobei der Einfluss auf Jahre hinaus zementiert wurde (so wurde ein dreiköpfiges Gremium geschaffen, dessen Mitglieder unkündbar sind und für die nächsten 9 Jahre alle Budgetentwürfe beeinspruchen könnte, was einer anderen Regierung eine Politik gegen die Fidesz unmöglich machen würde). Dazu kamen Wahlreformen (Neueinteilungen der Wahlkreise), die der Fidesz bei noch nicht mal der Hälfte aller Stimmen ein Zweidrittelmehrheit garantierten und einen Wahlerfolg der Opposition erschweren (die ländlichen Wahlkreise, in denen die Fidesz ihre Stammwählerschaft hat, wurden aufgewertet). Unterstützt wird diese Form der Politik von der katholischen Kirche und den zahlreichen Auslandsungarn in Rumänien, der Slowakei und Serbien, denen die Stimmabgabe erleichtert wurde (über 90 % dieser Wähler stimmten für Orbán). Im Gegensatz dazu wurde jenen Ungarn, die in der EU (v. a. in Österreich oder Deutschland) tätig sind (und der Regierung Orbán kritisch gegenüberstehen) eine solche Teilnahme ungeheuer erschwert (man musste persönlich beim Konsulat vorsprechen, um zugelassen zu werden).

Der von Orbán nach seinem Wahlsieg 2014 verkündete “Illiberalismus” scheint also auf Jahre hinaus gesichert, einzig Ungarns Mitgliedschaft in der EU verhindert Zustände, die mit Putins Russland vergleichbar wären (und nicht von ungefähr waren es Putin und Erdogan, die Orbán als großartige Staatsmänner und Vorbilder bezeichnete). Es gibt keine Investitionen in Bildung (die Förderung zum Bau von Fußballstadien durch den Fußballfan Orbán ist höher als das gesamte Universitätsbudget), die von George Soros gegründete Central European University wurde wegen ihrer Liberalität durch ein spezielles Gesetz zum Umzug nach Wien gezwungen (was nicht einer gewissen Pikanterie entbehrt, da gerade Orbán und seine Clique durch die Unterstützung des Milliardärs anfangs enorm profitierten), es gibt keine funktionierende Zivilgesellschaft. Ungarn, das in der Wissenschaft einen guten Ruf zu verteidigen hat (die große Zahl ungarischer Mathematiker ist beeindruckend), wird (wurde) in jeder Hinsicht zu einer Bananenrepublik, dessen Vermögen unter einer kleinen Gruppe regierungstreuer Personen aufgeteilt wird (unbestätigten Quellen zufolge könnte Orban bereits der reichste Ungar sein). – Das Buch ist eine leicht lesbare Beschreibung dieses Niedergangs, eine deprimierende Dokumentation einer auf Jahrzehnte hinaus verlorenen Nation. Wobei Lendvai – neben diesen Fakten – nur wenig von der Stimmung im Land zu vermitteln versteht, ein tieferer Blick in die ungarische Befindlichkeit hätte dem Buch gut getan. Trotzdem sehr lesbar, wenngleich beim Leser eine Form von Hoffnungslosigkeit hinterlassend.


Paul Lendvai: Orbáns Ungarn. Wien: Kremayr & Scheriau 2016.

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