Auf dem vorderen Buchdeckel meines Exemplars klebt ein kreisrunder und knallroter Sticker: Die Sensation aus CHINA; auf dem hinteren Buchdeckel ist es sogar der Lead von dem, was ich in Ermangelung eines andern Ausdrucks den Klappentext nenne: DER WELTBESTSELLER AUS CHINA. Und natürlich darf weder vorne noch hinten der Hinweis darauf fehlen, dass dieser Roman sowohl Chinas Galaxy Award wie den US-amerikanischen Hugo Award gewonnen hat (letzteren 2015, nachdem der 2006 im Original veröffentlichte Text 2014 ins Englische übersetzt worden war).
So viel Vorschusslorbeeren haben bei mir den gegenteiligen Effekt von dem, was sich die Marketing-Abteilungen der Verlage im Allgemeinen wünschen: Sie stimmen mich misstrauisch und lassen mich von einer Lektüre absehen. Erschwerend kommt im Fall der Drei Sonnen hinzu, dass es sich hier um den ersten Band einer auf deren drei angelegten Serie handelt. Ich lese keine Mehrteiler. So kommt es, dass ich seit der deutschen Erstausgabe im Januar 2017 zwei Jahre verstreichen liess bis zur Lektüre.
Um es vorweg zu nehmen: Ich werde die beiden Folgebände nicht lesen. Die drei Sonnen ist zugegebenermassen gute Science Fiction, zur Abwechslung auch mal eine, die auf militärische Operationen im Weltraum verzichten kann, ohne gleich auf Aliens zu verzichten oder auf eine Bedrohung der Erde durch dieselben. Es handelt sich hier um durchaus gut gemachte „Hard“ Science Fiction – Science Fiction also, die den Schwerpunkt auf die Science legt, auf die Wissenschaft, und nicht unbedingt auf die Fiktion. Jedenfalls fast.
Neu oder anders an diesem Roman ist, dass eine nicht unbedeutende Faktion der Menschheit es sogar begrüssen würde, übernähmen die Aliens die Erde. Diese Faktion setzt sich zusammen aus radikalen Umweltschützern und politischen Rebellen. (Unter den namentlich aufgeführten Protagonisten sind ein paar, die sogar beides in sich vereinen.) Dieser Teil der Menschheit erhofft sich von den Aliens einen besseren und bewussteren Umgang mit den Ressourcen der Erde. Die ganz Radikalen nehmen dafür sogar in Kauf, dass – was sie wissen – die Aliens die Menschheit auslöschen wollen.
Der Grund, warum die Aliens überhaupt die Erde übernehmen wollen, ist der, dass ihre Herkunftswelt ein Planet ist, der um ein System von drei Sternen kreist – offenbar sind da Alpha Centauri A und B gemeint, sowie Proxima Centauri. Bewegungen solcher Himmelskörper erfolgen chaotisch und können nur durch Näherungen berechnet werden. Immer wieder werden, durch spezielle Konstellationen ihrer drei Sonnen, entstehende Zivilisation auf dem Planeten der Trisolarier genannten Aliens vernichtet. Deshalb suchen sie nun einen Planeten, wo sie Ruhe haben. Unvorsichtigerweise – nein: bewusst, weil ihr die riesigen Abholzungen der Wälder rund um ihr Observatorium nicht gefielen (in der Schilderung der Abholzungen erinnert Liu fast wörtlich an Thoreau!) – in voller Absicht also hat die Astrophysikerin Ye Wenjie Signale ins Weltall gesendet, auf die die Trisolarier aufmerksam wurden.
Was nun das Sensationelle des Romans betrifft, mit dem die Verlage Werbung machen, so ist es einerseits (der Name der Astrophysikerin weist bereits darauf hin) im Grunde genommen nur der Exotismus des Umstands, dass die Handlung in China spielt, praktisch alle Protagonisten also Chinesen sind. Dieser Exotismus ist vom Autor durchaus nicht intendiert: Er beschreibt ja eine Welt, die für ihn Alltag ist. Dass ein rein chinesisches Ereignis wie die Kulturrevolution, mit der Mao Zedong seine Herrschaft festigte, eine wichtige Rolle spielt (Ye Wenjie ist die Tochter eines von den Roten Garden ermordeten Professors, was ihr – gelinde gesagt pessimistisches – Bild der Menschheit schon früh geprägt hat), sollte da die Kritiker weniger überraschen, als es das offenbar tut. Die Kulturrevolution war immerhin ein prägender Einschnitt ins chinesische Leben auch des ‚kleinen Mannes‘ und ist bis heute präsent.
Andererseits sind es wahrscheinlich auch die ‚harten‘, nach Wissenschaft oder zumindest Wissenschaftlichkeit klingenden Fakten und physikalischen Phänomene, die Liu ins Spiel bringt, und die das Sensationelle dieses Werks für die Kritik ausmachen. Cixin Liu hat ganz offensichtlich schon von der String-Theorie gehört, und eine Variation der Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit spielt eine grosse Rolle im Roman. Lius Mannigfaltigkeit weist allerdings nicht nur 10 Dimensionen auf, sondern gar deren 11. Auch kann man irgendwie diese Dimensionen einzeln in unserm vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum auffalten, was meines Wissens in der String-Theorie genau so wenig vorgesehen ist, wie, dass man in diese einzeln aufgefalteten Dimensionen der Mannigfaltigkeit irgendwelche Elementarteilchen hineinzwängt und dort sogar noch manipulieren (nämlich zu Spionage- und Sabotage-Drohnen verwandeln) kann. Da sind wir halt dann doch wieder im ‚Fiction‘-Teil der Science Fiction, genau so wie dort, wo Radiowellen an die Aliens durch die Sonne um Zehnerpotenzen verstärkt werden (je nun, irgendwie müssen die ja noch im Laufe des Romans zu den Trisolariern kommen), oder wo eine Kommunikation ohne Zeitverlust über Lichtjahre hinweg durch quantenphysikalische Verschränkung möglich ist (je nun: das Problem der Zeit, die selbst Licht braucht, um im Weltall voran zu kommen, steht nicht nur Liu im Weg, der wenigstens eine Lösung anbietet, während andere nonchalant darüber hinweg gehen).
Alles in allem trotz hoher Gewichtung der Wissenschaftlichkeit und trotz kaum vorkommender ‚Action‘ durchaus lesbar; auch wenn ich Die drei Sonnen nun nicht als die Sensation oder gar als eine Revolution der Science Fiction betrachten würde. Wie bereits gesagt: Die beiden weiteren Bände der Trilogie werde ich nicht lesen.
Cixin Liu: Die drei Sonnen. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. München: Heyne, 2017
„Ich lese keine Mehrteiler.“
Was denn, sind Sie nicht ein Fan der recherche du temps perdu?