Wilson ist nicht nur einer der namhaftesten Biologen und Myrmekologen, sondern ist auch mit Büchern über Anthropologie, Soziobiologie, Philosophie und einem Roman (notabene über Ameisen) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Er tritt in dem verlinkten soziobiologischen Buch für die These der Gruppenselektion ein (zumindest in Bezug auf Ameisen), ein Thema, dem auch in diesem Buch ein Kapitel gewidmet ist (wobei der Coautor Hölldobler sich in diesem Zusammenhang Wilsons Ideen nur teilweise anschließt). Das vorliegende Buch aber lässt diese Kontroverse weitgehend beiseite und beschränkt sich auf die Beschreibung dieser faszinierenden Wesen (die die einzigen – neben dem Menschen – sind, die sich landwirtschaftliche Nutztiere (Milben und Läuse, die „gemelkt“ werden) halten).
Jedenfalls betrachtet man nach der Lektüre des Buches die (mich jedes Frühjahr heimsuchenden) Ameisen mit anderen Augen. Ein wohl durchorganisiertes Staatswesen, weitgehende Arbeitsteilung, wohldurchdachte kriegerische Maßnahmen, Kommunikationsverhalten (das weitgehend von Duftstoffen gesteuert wird, wobei diese Art der Kommunikation die Gesellschaft für Betrüger und Sozialparasiten anfällig macht), trophobiontische Beziehungen (so werden bestimmte Schmetterlingslarven aufgezogen, die im Gegenzug an die Ameisen zuckerhaltige Substanzen abgeben) oder das Jagdverhalten geben Einblick in eine Natur, die ob ihrer komplizierten und auf vielfältige Weise ineinander verschachtelten Struktur etwas Wundersames an sich hat (und auch hier zeigt sich wieder, wie viel mehr Kreativität und Komplexität in der Naturwissenschaft zu finden ist denn in simplen, erklärenden Mythen).
Das Buch vermittelt aber nicht nur Fachwissen über die Formicidae (die im übrigen mit den Wespen sehr viel enger verwandt sich als mit den scheinbar ähnlichen Termiten), sondern versteht es auch auf die Wichtigkeit von Ökosystemen hinzuweisen, denen wir Menschen ansonsten kaum Aufmerksamkeit schenken. Und es vermittelt die Freude an der Forschertätigkeit, an der Natur als ein unglaublich reichhaltiges Gebiet für den aufgeschlossenen Geist, es regt an, beim nächsten Spaziergang die Welt mit ein wenig anderen Augen zu betrachten, genauer, vielleicht auch liebevoller. (Ich könnte mir vorstellen, dass keine andere Publikation der Welt mehr begeisterte Myrmekologen beschert hat als diese.) Und ich habe auch besser zu verstehen gelernt, warum sich Menschen über Jahre (wie in meiner engsten Verwandtschaft) mit einer Unterordnung der Hymenoptera zu beschäftigen in der Lage waren. Ein wirklich wundervolles, inspirierendes und kluges Buch, dessen Erkenntnisse – wie häufig in der Biologie – über dieses Fach hinausweisen und auch für den Menschen, seine Stellung in der Natur, sein philosophisches Selbstverständnis von Bedeutung sind.
Bert Hölldobler, Edward O. Wilson: Auf den Spuren der Ameisen. Berlin, Heidelberg: Springer 2016.