Auf drei verschiedenen Zeitebenen handelt dieser Roman. (Oder auf 2½ bzw. 3½, wie man’s nimmt.) Die Autorin wollte offenbar keinen simpel-trivialen historischen Roman über den nachmaligen Heiligen Gallus verfassen und wählte den Ausweg, dessen Geschichte auf drei verschiedenen Zeitebenen auszubreiten.
Da sind zunächst einmal die Erinnerungen des Gallus – vage Erinnerungen an seine Kindheit, schon genauere an seine Zeit als Novize im Kloster von Bangor (diesmal nicht die Kleinstadt in Maine, sondern die etwa doppelt so grosse Stadt in Nordirland) und last but not least die Pilgerreise, die er im Gefolge des Wandermönchs Columban auf dem europäischen Festland unternahm, bis er sich von ebendiesem trennte und der Nähe des heutigen St. Gallen niederliess. Im Grossen und Ganzen stützt sich Alioth dafür auf die einzige vollständig überlieferte Vita, die der Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo im 9. Jahrhundert schrieb; die für heutige Leser schwer verdaulichen Wundertaten Gallus‘ werden allerdings weggelassen oder als Anfänge einer Legendenbildung im Volk des 7. Jahrhunderts dargestellt.
Die nächste Zeitebene handelt ungefähr 20 Jahre nach der Trennung zwischen Gallus und Columban. Gallus ist nun Eremit in der Nähe des Bodensees – Eremit und zugleich Oberhaupt einer klosterähnlichen Gemeinschaft. Es kommt ihn dort eine Frau besuchen, die ihn mit Fragen nach den tatsächlichen Umständen seiner Pilgerreise löchert. Diese Zeitebene wird in der Ich-Form von der Frau erzählt, während Gallus‘ Erinnerungen in der dritten Person referiert wurden. Die Fragen der namenlosen Frau sind denn auch Auslöser dafür, dass sich Gallus wieder erinnert. Der Frau aber erzählt er längst nicht alles, woran er sich erinnert.
Eine dritte Zeitebene, die aber mit der zweiten noch mehr verfliesst, als diese mit der ersten, schildert – ebenfalls in der Ich-Form – die Erlebnisse einer Frau, die im 20. Jahrhundert zusammen mit ihrem Mann nach Irland ausgewandert ist. Die Frau verliebt sich dort in einen andern Mann, muss aber erleben, wie die beiden Männer offenbar selber miteinander ein Verhältnis haben. (Wie überhaupt jeder Mann – und jeder Mönch sowieso – in diesem Roman homosexuell zu sein scheint.) Es kommt zur Trennung; die Ich-Erzählerin muss (warum, wird nicht klar) Irland wieder verlassen. Diese dritte Zeitebene ist offenbar autobiografisch, zumindest autobiografisch motiviert. (Der Mann der Ich-Erzählerin trägt immerhin den gleichen Vornamen, wie der Mann von Gabrielle Alioth.) Die dritte Zeitebene verfliesst also, wie bereits gesagt, mit der zweiten, indem des öfteren Erlebnisse der Frau aus dem 20. Jahrhundert in Fragen und Erlebnisse münden, die jene fiktive Frau im 7. Jahrhundert bei und um Gallus gehabt hat.
Das Projekt dieses Romans ist ambitiös – zu ambitiös, wie mir scheinen will, da die drei Ebenen trotz allem künstlich herbei geführten In-einander-Fliessens disparat bleiben. Speziell die Figur der Frau aus dem 20. Jahrhundert bleibt ein Fremdkörper. Ihre Erlebnisse in Irland sind für die Geschichte des Heiligen Gallus irrelevant. Das nahtlos-plötzliche Übergehen vom 20. ins 7. Jahrhundert in der Ich-Form der Erzählerin irritiert und bringt weder poetologisch noch sonst einen Erkenntnisgewinn, was Gallus‘ Geschichte betrifft. Und die Kernfrage, die Alioth und die Ich-Erzählerin offenbar umtreibt – was hat sich zwischen Columban und Gallus wirklich ereignet, was ist die Wahrheit? – diese Kernfrage bleibt letztlich unbeantwortet.
Fazit: Gabrielle Alioth vermeidet es zwar, eine weitere Hagiografie zu liefern, will aber zu viel. Zu viel ‚Literatur‘ vor allem. Daran scheitert der Roman.
Gabrielle Alioth: Gallus, der Fremde. Basel: Lenos, 2018.