Mimikry, Parodie, Pastiche: Ich bin versucht, diese drei Begriffe auf den ersten Roman der Schlafwandler-Trilogie von Hermann Broch anzuwenden. Denn sowohl von der Handlungszeit her (1888), wie von Handlungsort (Berlin bzw. dessen Umlande) und -milieu her (der Protagonist, Joachim von Pasenow, Lieutenant der Garde, stammt aus dem preussischen Landjunkertum), aber sogar im Sprachduktus erinnert vieles in diesem Roman an Theodor Fontane.
Aber unter dieser äusseren Hülle versteckt sich etwas anderes als „nur“ Fontane. Hermann Broch ist so etwas wie ein Programm-Schriftsteller. Er will zeigen, wie mit dem Abbau alter Kulturfiktionen […] der Übergang von der ausklingenden Romantik des späten 19. Jahrhunderts zur sogenannten Sachlichkeit und Nachkriegsepoche sich vollzieht. (H. Broch: Der Roman Die Schlafwandler, in meiner Ausgabe zu finden im Anhang Hermann Brochs Kommentare.) Anders als Fontane zum Beispiel, lässt uns Broch auch immer wieder an den Gedanken Pasenows teil haben (und praktisch nur an den seinen!). Diese Technik, sprachliche Mimikry und ausgedehnter innerer Monolog, verbindet Broch mit der literarischen Moderne, verbindet ihn mit seinem grossen Vorbild James Joyce. Broch spricht denn auch davon, dass er mit den Schlafwandlern eine neue Form des Naturalismus in die Literatur eingeführt habe.
Pasenow lebt also in der Romantik. Damit meint Broch nicht unbedingt das, was wir heute darunter verstehen. ‚Romantik‘ ist in den Schlafwandlern ein sich (meist unbewusstes) Klammern an die Vergangenheit: Das geregelte Funktionieren eines Garde-Lieutenants bildet für Pasenow eine Art Exo-Skelett, das ihn seelisch und geistig, ja sogar körperlich, zusammenhält. Körperlich, weil es erst das Anziehen der Uniform in der Frühe ist, das Pasenow in seinem eigenen Selbstverständnis zum ‚fertigen Menschen‘ macht. Einmal in Uniform, kann er auf die Zivilisten herabsehen – ja mehr: Er nimmt die Zivilbevölkerung gar nicht mehr wahr. Wo er gezwungen ist, sich mit ihr abzugeben, verspürt er eine Mischung von Verachtung und Furcht vor ihr. Was ihn neben der Uniform noch seelisch und geistig zusammenhält, ist seine Religion. Nicht, dass er im eigentlichen Sinne gläubig wäre, aber tief in seinem Innern schlummert die Überzeugung, dass der liebe Gott die Welt genau so eingerichtet hat und dass die Welt genau so zu sein hat, wie er sie erlebt: Europa als Nabel der Welt, Deutschland an der Spitze Europas, mit dem König / Kaiser an der Spitze des Deutschen Reichs, seinen Offizieren unter ihm, dann der Soldatenstand, dann die (männliche) Zivilbevölkerung, dann die Frauen.
Pasenows Antagonist ist Eduard von Bertrand. Dieser hat die militärische Laufbahn früh aufgegeben und sich im Tuch-Grosshandel etabliert. Bertrand ist deshalb auf allen Kontinenten auf Reisen, auf allen Kontinenten zu Hause. Seine kosmopolitische Offenheit zieht Pasenow zugleich ebenso stark an, wie sie ihn abstösst. Bis zum Schluss wird sich der Offizier seiner Gefühle gegenüber Eduard nicht klar werden, wie er überhaupt nicht einer ist, der sich seiner Gefühle klar wird.
Der erste Teil der Schlafwandler-Trilogie ist recht kurz (keine 180 Seiten in meiner Ausgabe), und auf Grund des von Broch verwendeten Fontane-Idioms auch süffig zu lesen. Es besteht dabei allerdings die Gefahr, dass man – ähnlich wie der Reiter über den Bodensee – übersieht bzw. überliest, welche Abgründe sich in den Protagonisten auftun. Abgründe, die Europa in den Schlamassel des Ersten und auch noch des Zweiten Weltkriegs reissen sollten. Das Buch wurde ja quasi am Vorabend der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler veröffentlicht.
Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (= Hermann Broch: Die kommentierte Werkausgabe, herausgegeben von Paul Michael Lützeler. Band I) Frankfurt/M: Suhrkamp, 102017 (st 2636)
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