Stilistisch kann man Hermann Broch getrost als das Chamäleon der deutschen Literatur bezeichnen. Wir haben schon in seiner Schlafwandler-Trilogie*) gesehen, wie er von Band zu Band den Stil dem Inhalt anpasst, so, wenn er zum Beispiel in Band 1, der vorwiegend im Berlin des Jahres 1888 spielt, nachgerade wie Fontane klingt. Das gilt auch für den Tod des Vergil, nur dass Broch hier jedes Kapitel in einem anderen Stil schreibt. Nicht wie Joyce in seinem Ulysses allerdings (den Broch sehr gut kennt), der zum einen viel mehr Kapitel verwendet (24 gegen deren 4), zum anderen auch sehr artifiziell vorgeht und seinen Schreibstil von Kapitel zu Kapitel komplett umkrempelt. Broch geht organischer vor.
Das hängt auch damit zusammen, dass alle Kapitel mehr oder weniger in dem abgefasst sind, was Broch selber einen inneren Monolog nennt. Broch schreibt zwar den ganzen Roman in der dritten Person, dennoch sind wir immer mehr oder weniger in den Gedanken des Protagonisten Vergil. Die Abgrenzung eines ‚inneren Monologs‘ zum ‚Bewusstseinsstrom‘ ist in der Literaturwissenschaft fließend, ist es auch bei Broch.
Der Tod des Vergil weist auf rund 500 Seiten vier Kapitel auf:
- I. Wasser – Die Ankunft
- II. Feuer – Der Abstieg
- III. Erde – Die Erwartung
- IV. Äther – Die Heimkehr
Das sind zunächst einmal die vier Elemente der Antike – je nach Kosmologie die Bausteine der Welt. Nach dem Gedankenstrich aber weist Broch bereits im Titel eines jeden Kapitels auf das Hauptmerkmal seines Vergil hin: Dieser sein Vergil ist ein Seher, ein Prophet. Gleichzeitig steht dahinter aber auch die Realität: Die Ankunft ist auch die Ankunft eines todkranken Mannes (Vergil) mit dem Schiff in Brindisi, dem Hafen des alten Rom, und dessen Transport vom Schiff in den kaiserlichen Palast. Vergil kommt am Abend an, und das zweite Kapitel beschreibt die Nacht des fiebernden und halluzinierenden Poeten, den Abstieg in seine Träume, den zumindest gedanklichen Abstieg auch vom Palast auf dem Hügel hinunter in die Stadt der Proletarier (er hört einer Gruppe keifender Besoffener zu). Die Erwartung, das ist der folgende Tag, wo sich Vergil wieder besser, ja gesund, fühlt und zuerst mit seinen Freunden Plotius Tucca und Lucius Varius über Fragen der Dichtkunst diskutiert, später dann mit dem Kaiser staatsphilosophische Themen bespricht – das alles ist in der Tat sehr (wie man in England sagen würde) ‚down to earth‘. Last but not least: Die Heimkehr – der nun wirklich sterbende Vergil.
Das erste Kapitel (das kürzeste) verfolgt den Weg des Vergil in den Palast in einer sehr lebendigen Sprache. Man erhält den Eindruck, einem Strom von seiner Quelle (bzw. dem Schiff, das Vergil hergebracht hat) über verschiedene, zum Teil auch mäandrierende Nebenläufe zu verfolgen bis zu seiner Mündung im Meer (bzw. im Palast). Gleichzeitig kehrt Broch aber den Lauf des Wassers um: Vergil begibt sich vom Meer zu dem auf einem Hügel gelegenen Palast auf dem festen Boden.
Das zweite Kapitel ist das sprachlich faszinierendste. Broch hat in seinen Anmerkungen für seinen US-amerikanischen Übersetzer festgehalten, dass vor allem das zweite Kapitel im Grunde genommen Lyrik sei. Der gehobenere Sprachduktus beweist das. Broch ist aber auch in der Lage, das Halluzinieren eines Fiebernden wiederzugeben. Vergil ist ein Mann des Wortes, also halluziniert er in Worten. Will sagen: Er bildet endlose Ketten von Assoziationen, die manchmal über die Bedeutung motiviert sind, manchmal aber auch über den Gleichlaut von Wörtern. Es ergeben sich Sätze, die über mehrere Seiten gehen – ohne Absatz. Es ist der Klang, der dem Dichter wichtig ist, nicht der logisch-semantische Inhalt der Wortreihen (ich zögere, sie in einem anderen als einem rein morphologischen Sinn ‚Sätze‘ zu nennen). Ob jedes Wort oder gar jeder Satz einen Sinn ergibt, wage ich zu bezweifeln. Das war wohl auch nicht Brochs Absicht. Sein Programm war wohl mehr, zu zeigen, wie Vergil nach Worten sucht, um etwas auszudrücken, mit dem die christliche Theologie seit 2000 Jahren ringt, und für das Vergil in seinem Latein noch gar keine Worte haben kann, er gewissermaßen der erste ist, der christliche Lehre auf Latein zu formulieren sucht. Vergil nämlich erfährt hier erste Visionen des kommenden Christentums und seiner Theologie. Last but not least: In der Darstellung der Ängste des Fiebernden, der Dämonen, die ihn nunmehr jagen, gelingen Broch Szenen, derer sich selbst ein Lovelace nicht schämen würde – Horror vom Feinsten.
Im dritten Kapitel finden wir beinahe gebräuchliche Alltagssprache – nur unterbrochen von kurzen halluzinierenden Schüben Vergils. Er diskutiert mit seinen Freunden Poetologie und – wie es so ist, wenn Schriftsteller zusammen kommen – man zerreißt sich das Maul über Kollegen. Man lobt die Autoren seiner eigenen Generation und deren Werke; man macht die Jüngeren zur Schnecke. Das ist zum Teil recht witzig, aber schon fast ein Exkurs, genau so, wie die anschließenden heilkundlichen Diskussionen, die Vergil mit dem Hofarzt führt, auch wenn diese dann sogar zu philosophischen Auseinandersetzungen überleiten, in denen Vergil abermals umsonst versucht, den den erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Standpunkt zu formulieren, den die christliche Doktrin verlangt. Zentral – poetologisch und staatsphilosophisch – ist dann die Diskussion Vergils mit Augustus. Hier kommt das Thema sowohl des zweiten Kapitels wieder wie die Diskussionen mit seinen Freunden und seinem Hofarzt. Was Vergil mit Augustus beredet, ist in vieler Hinsich also Zusammenfassung und Schlussfolgerung aus dem Vorhergehenden. Augustus, der sich viel darauf einbildet, Rom nach dem Bürgerkrieg befriedet zu haben, muss sich nicht nur anhören, dass Vergil seine Äneis vernichten will, er muss sich auch den Grund dafür anhören. Vergil ist nämlich zur Überzeugung gelangt, dass der statisch-konservative Charakter, den Augustus dem Römischen Reich aufgedrückt hat in seinem Mühen um Befriedung, ein historischer Irrtum ist – dass etwas Neues und grundsätzlich anderes kommen muss und wird. In Brochs Roman wird Vergil tatsächlich zum Seher und Propheten des Christentums, zu dem ihn die mittelalterlichen Ausleger gemach haben. Der römische Dichter hat schon in seinen nächtlichen Fieberträumen von einem Vater-Gott, einem Sohnes-Gott und einem Geistes-Gott halluziniert.
Das letzte Kapitel, auch ein sehr kurzes, zeigt ‚nur noch‘ den Menschen Vergil. Der Dichter, der Mann des Worts, ist bereits abgestorben. Vergil sieht noch Bilder, bis auch die erlöschen bzw. übergehen in etwas, von dem es heißt:
[…] er konnte es nicht festhalten, und er durfte es nicht festhalten; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache.
Womit Broch, der von 1936 bis 1945, dem Jahr des Endes des Zweiten Weltkriegs, am Tod des Vergil arbeitete, zu praktisch demselben mystischen Schluss findet, wie Ludwig Wittgenstein 1918, dem Jahr des Endes des Ersten Weltkriegs, in seinem Tractatus logico-philosophicus.
Dass die Umwandlung des Vergil in einen Seher und Mystiker allen gefällt, glaube ich nicht. Nicht deswegen aber finde ich den Roman großartig sondern wegen dessen schierer sprachlichen Wucht. Ich weiß: Da sind nicht alle meiner Meinung. Der Roman gilt als kompliziert, für einige auch nur als eine Art Wortsalat (z.B. sinngemäß auch für den ansonsten wortgewaltigen Interpretationen nicht abgeneigten Hans-Dieter Gelfert). Man sollte, nebenbei bemerkt, den Tod des Vergil in der kommentierten Werkausgabe von Paul Michael Lützeler lesen, wo er als Band 4 figuriert, die auch als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen ist (st 2366). Dort sind nicht nur die Vorstufen des Romans enthalten sondern auch die verschiedenen Technischen Bemerkungen zur Übersetzung, die Hermann Broch für seine US-amerikanische Übersetzerin anfertigte (der Roman erschien zeitgleich auf Deutsch und auf Englisch, beides in den USA). Diese Bemerkungen sind sehr erhellend und helfen ungemein, Brochs Poetologie zu verstehen.
*) Band 1 wurde hier vorgestellt, Band 2 hier und Band 3 schliesslich hier.
Ganz recht, sprachlich hat das Werk auch mich stark beeindruckt, vor allem der zweite Teil. Im dritten hingegen ist es schon etwas komisch, wenn die Römer wie Österreicher sprechen:
„’…und natürlich darf der Horaz nicht ausgenommen werden…‘ ‚Der Horaz hat mir Abschiedsverse aufs Schiff geschickt, als ich nach Athen fuhr.’“ Wieso kommt das?
Allerdings, zur frohen Botschaft von Vergil als Proto-Christ braucht man wohl kaum was zu sagen. Bekanntlich hat er diese Ehre einem Vers zu verdanken, den so zu reklamieren noch anmaßenderer Unfug ist als bei den sogenannten Messianischen Prophezeiungen im Alten Testament.
Übrigens ist Ihnen ein gewiss unbeabsichtigter Ausrutscher in den male chauvinism passiert. Der US-amerikanische Übersetzer ist nämlich eine Übersetzerin: Jean Starr Untermeyer hieß die Dame.
Danke für den Hinweis. Ich habe das Geschlecht der übersetzenden Person geändert.