Samuel Butler (1835-1902) veröffentlichte seine bekannte satirische Dystopie Erewhon im Jahre 1872 – anonym. Das mochte so seine Gründe haben, liess er doch unter dem Deckmantel einer unbekannten Zivilisation kein gutes Haar an der Moral seiner viktorianischen Zeitgenossen und der anglikanischen Kirche. Erewhon ist ein Anagramm von ’nowhere‘ – also ’nirgends‘, was wiederum dem ‚Utopia‘ von Thomas Morus entspricht.
Ein zu Beginn namenloser Erzähler trudelt mehr aus Versehen denn absichtlich in Erewhon ein, indem er einen Gebirgszug überklettert. Der junge Mann, nach eigenem Geständnis gilt er mehr für einen Adonis als für eine Geistesleuchte, beginnt seine Karriere als Schäfer in einer nicht näher bezeichneten, aber unschwer als Neuseeland erkennbaren Gegend. Der Wunsch, durch eigene Schafzucht oder Goldwäscherei reich zu werden, zieht ihn in die bisher von den Weissen unerforschten Berge. Die ersten 6 oder 7 Kapitel sind denn auch Reisebericht – ohne Erewhon. (So, wie der Robinson Crusoe sich lange zieht, bis wir mit Robinson dann endlich auf der einsamen Insel stecken.) Die ersten Gedanken des Helden, als er dann wirklich von Erewhonianern aufgelesen wird, sind, dass es sich hier um die verlorenen 10 Stämme Israels handeln müsse, und dass er sie zum (anglikanischen) Christentum bekehren und taufen müsse. Und beide Male malt er sich aus, wie berühmt er wohl würde, wenn eine solche Tat bzw. Entdeckung von ihm bekannt würde.
Bald aber beginnt ihm die Zivilisation, die Lebensweise seiner Gastfreunde zu gefallen. Die Erewhonianer stellen ihrerseits Schönheit und Gesundheit über alles, und so scheint einer glücklichen Zukunft des jungen Exil-Engländers in Erewhon nichts im Weg zu stehen. Erst nach und nach erkennt der Protagonist, dass die scheinbar so schöne Utopie durchaus ihre Fehler und Macken hat – grosse Fehler und Macken sogar, die ihn schlussendlich dazu bewegen, sein Heil in der Flucht zu suchen.
Praktisch zeitgleich mit Bulwer-Lyttons The Coming Race erschienen, teilt Butlers Buch mit diesem den Zweifel daran, dass die Entwicklung der Menschheit unbedingt und geradlinig ins Positive verlaufen müsse. Die Erewhonianer behandeln einen Schnupfen als Kapitalverbrechen, eine Veruntreuung aber wie eine Krankheit. Speziell ausgebildete „Straiteners“ kommen ins Haus des an Veruntreuung Leidenden und kurieren ihn in Gesprächen. Technik gilt als Teufelszeug, weil ein Prophet vorhersagte, dass die Maschinen anfangen würden, sich selber zu perfektionieren und so die Macht über die Menschen übernehmen könnten. Trotzdem gibt es – quasi zur Abschreckung – ein Technikmuseum. Will sich Butler hier über Darwin lustig machen? Er hat es zwar selber verneint, aber Tatsache ist, dass der einstige Darwin-Anhänger Butler in späteren Jahren weniger freundlich über den Entdecker der Evolution urteilte.
Butler verteilt – hinter der harmlosen Maske eines jungen, nicht allzu intelligenten Engländers versteckt – viele kleine Bosheiten an seine Zeit und an seine Zeitgenossen. Das Kapitel über die „Musical Banks“ war recht erheiternd. Ich habe zuerst, da ich eine Analogie im ökonomischen Bereich suchte, gar nicht realisiert, dass Butler hier die (anglikanische) Kirche aufs Korn nimmt. Leider konnte er sich nicht enhalten, in einer späteren (der zweiten?) Auflage erklärende Zusätze beizufügen. Die sind zwar in meinem Penguin Classic markiert, aber man liest sie natürlich trotzdem mit. Auch wenn sie mir im vorliegenden Fall ein Aha-Erlebnis beschert haben, finde ich so was von Seiten eines Autors doch eher überflüssig.
Die vorhergehenden Kapitel übrigens eher zäh, da theoretisch-explikativ. Ein begnadeter Erzähler war Butler wohl nicht. (Im Gegensatz zu Bulwer-Lytton!) Die unausweichliche Liebesgeschichte: kühl, sehr kühl. Man begreift nicht, wie diese junge Dame aus Erewhon auch nur im Entferntesten dazu hat bewegt werden können, mit dem Erzähler zu fliehen. Ja, das Ende ist ebenso konventionell, indem die Flucht gelingt.
Und sonst? Ein paar witzige Einfälle eines Autors, der zumindest so menschenfeindlich zu sein scheint wie Schopenhauer. Ich habe die Lektüre nicht bereut, hatte aber Besseres erwartet.
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