Offenbar war der Fischer-Verlag, bei dem die deutsche Übersetzung von Hossenfelders Buch erschienen ist1), der Meinung, dass sich im deutschsprachigen Raum ein Titel, der das Wort „Mathematik“ zum Inhalt hat, nicht verkaufen liesse. Nur so kann ich mir erklären, warum man statt statt z.B. „Verloren in Mathe“ (oder, derber – derber als Hossenfelders Buch es ist, zugegeben: „Abgesoffen in Mathe“ ) diesen nichts sagenden Titel gewählt hat. Ausser natürlich, man wollte es bewusst in Gegensatz stellen zu Brian Greenes The Elegant Universe, was dann allerdings Hossenfelders Auseinandersetzung mit verschiedenen mathematisch-theoretischen Ansätzen der Physik einseitig auf eine einzige Theorie fokussiert.
Die Mathematik, bzw. deren Anwendung in der theoretischen Physik, ist das grosse Thema dieses Buchs. Sabine Hossenfelder studierte zunächst Mathematik, dann Physik an der Goethe Universität in Frankfurt/M. Zur Zeit ist sie Research Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies. Kurz gesagt, vertritt sie in diesem Buch die Meinung, dass die Anwendung gewisser mathematischer Modelle und Berechnungen die physikalische Grundlagenforschung seit einigen Dezennien mehr hindert als fördert. Der grössere Teil der Forschergemeinde stützt sich auf mathmatische Modelle, nicht weil sie Erfolg in der Forschung versprechen, sondern weil sie (mathematisch) schön sind. Darin steckt (mehr oder weniger bewusst und implizit) der Gedanke, dass der grundlegende Aufbau der „Natur“, der „Welt“, (mathematisch) schön sei. Die Frage, die Hossenfelder sich, und in diesem Buch auch andern Forschern, stellt, ist, ob dem tatsächlich so ist, oder ob diese Vorannahme nicht die Physik in die Irre führt. Eine Formulierung, die mir übrigens für den Untertitel besser gefallen hätte, als der Begriff Sackgasse. Aus der Irre kann ich wieder auf den richtigen Weg finden, aus einer Sackgasse finde ich nur heraus, indem ich umkehre und den ganzen Weg zurückgehe, mindestens bis zur nächsten Weggabelung. Je nun, auch der aktuelle deutsche Untertitel lässt sich rechtfertigen, plädiert doch Hossenfelder für einen (in einem modifizierten Kuhn’schen Sinne – Kuhn wird im Texte einige Male erwähnt) Paradigmenwechsel.
Hossenfelders Paradebeispiel stammt aus der Astronomie. Für sein Modell der Planetenbahnen ging Nikolaus Kopernikus davon aus, dass die Planeten sich auf einer kreisförmigen Bahn um die Sonne drehen. Was ist mathematisch ’schöner‘ als ein Kreis? (Und mathematisch ’schön‘ sollte die Natur schon zu Kopernikus‘ Zeiten sein!) Doch die Forschergemeinde musste erleben, dass Kreise die konkreten Beobachtungen am Himmel nicht korrekt voraussagen konnten. Kopernikus fügte den einfachen Kreisen Epizyklen hinzu, kleine Kreisbahnen, die den grossen aufgeschrieben sind, so dass die Planeten eine Art kompliziertes Menuett am Himmel aufführen sollten. Aber noch immer bestanden die Planetenbahnen aus Kreisen – denn Kreise sind mathematisch schön! Als Kepler die Epizyklen eliminierte und die Kreise zu Ellipsen dehnte (bedeutend weniger ’schön‘, aber den Tatsachen entsprechend und in der Lage, präzise Vorhersagen zu leisten), wurde er von der Forschergemeinde angefeindet; so wollte noch Tycho Brahe an Stelle der Ellipsen Epizyklen sehen – nur, weil Kreise ja so viel schöner sind als Ellipsen…
Ähnlich, so Hossenfelder, ist die Situation heute in der theoretischen Physik: Supersymmetrie, Stringtheore, M-Theorie: Sie feilen alle an ihren mathematischen Modellen so lange herum, bis sie ’schön‘ sind. Postulate wie die Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit oder das Multiversum sind darin z.T. unverzichtbar. Die sind zwar mathematisch ’schön‘ (oder elegant, wie es Brian Greene nennt2), aber bis jetzt nicht nachgewiesen, vielleicht nie nachweisbar.) Der Nebeneffekt all dieser Modelle ist es, dass ein ganzer Teilchenzoo theoretisch gefordert ist, den praktisch nachzuweisen die Forschergemeinde und die Steuerzahler nun jene Millionen, ja Milliarden, kostet, die in den Bau und Betrieb von Hochleistungs-Teilchenbeschleunigern gesteckt werden. Ausser dem Nachweis des Higgs-Teils (das aber nicht aus diesen Theorien stammt), konnte bisher kein Resultat erzielt werden. Verschiedene Male wurden unterdessen die Massen-Werte nach oben korrigiert, die diese Teilchen haben sollten. (Was bedeutet, dass zu ihrem Nachweis noch leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger notwendig sind und gebaut werden müssen – ein Teufelskreis.)
Es ist diese durch nichts zu rechtfertigende Vorannahme, dass die Natur in ihrem grundlegenden Aufbau ’schön‘ sei, die Hossenfelder kritisiert. Durch nichts zu rechtfertigen – und durch nichts gerechtfertigt, ausser dem Gefühl der Physiker, die Welt müsse in ihren Grundlagen (mathematisch) ’schön‘ sein. Hossenfelder gibt Leibniz die Schuld an diesem Schönheitswahn der Wissenschaft. (Sie gibt aber auch zu, wie alle Physiker eine schlampige Philosophin zu sein. Tatsächlich lässt sich das Postulat der Schönheit und Einfachheit der Grundstrukturen der Welt bis auf Aristoteles zurück verfolgen. Ja, es ist vielleicht dem Menschen von Geburt an mitgegeben, in der Welt Schönheit, Einfachheit und Symmetrie sehen zu wollen. Wir sind ja zum Beispiel alle instinktiv davon überzeugt, dass der Mensch symmetrisch gebaut ist: Unsere linke Körperhälfte sieht aus wie unsere rechte – einfach spiegelverkehrt. Wenn man dann eine Portraitfotografie in der Mitte halbiert, die beiden so erhaltenen Hälften spiegelt und mit ihren Originalen zu einem Gesicht zusammen setzt (also linke Gesichtshälfte mit der gespiegelten linken Hälfte, dasselbe rechts), wird man feststellen, dass man zwei – zwar ähnliche, aber doch unterschiedliche, und natürlich auch vom Original verschiedene – Gesichter vor sich hat. Das Verblüffende an diesem Experiment ist die Verblüffung, die es jedes Mal hervorruft – so sicher sind wir, dass wir symmetrisch aufgebaut sind. Gesichter, die schon auf den ersten Blick unsymmetrisch sind (z.B. durch einen Unfall oder eine Krankheit verursacht), empfinden wir instinktiv als ‚hässlich‘ und nennen sie ‚entstellt‘. Das gilt auch für andere Körperteile: Schon Erich Kästner wusste es und dichtete darüber, dass die linke und die rechte Brust einer Frau nicht gleich gross sind – und darüber, wie entsetzt eine Frau ist, der man(n) das sagt. Aber auch beim Mann hängt einer der beiden Hoden tiefer als der andere…)
Hossenfelder empfiehlt nun nicht, dass Institutionen wie das CERN sofort stillgelegt werden. Die Theorien, die es beweisen soll, hat es zwar bisher nicht beweisen können. Aber das besagt auch noch nicht, dass die Theorien falsch sind. Hossenfelder plädiert einzig dafür, auch andere mathematische Ansätze in der theoretischen Physik anzuwenden – Ansätze, die, weil sie z.B. Unstimmigkeiten und Asymmetrien nicht einfach mathematisch herauskürzen, weniger ’schön‘ sind. Eine kopernikanische Wende en miniature, sozusagen. Die Zukunft wird (vielleicht) zeigen, welcher Ansatz zu besseren Resultaten führt. Wenn man denn alle Ansätze weiter verfolgt.
1) Das Buch ist, wie es scheint, zuerst auf Englisch erschienen, ebenfalls im Jahr 2018. Die deutsche Übersetzung stammt von Gabriele Gockel und Sonja Schuhmacher. Ob das auf dem Vorsatzblatt ebenfalls genannte Kollektiv Druck-Reif einen dritten Übersetzer darstellen soll, oder eine Zusammenfassung von Gockel und Schuhmacher ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Text fasst die physikalischen Erkenntnisse bis und mit 2015 zusammen. Wenn ich das richtig sehe, hat sich an ihnen aber in der Zwischenzeit nichts Grundlegendes geändert: Noch immer ist die Grundlagenforschung am CERN und anderswo auf der Suche nach jenen Elementarteilchen, die von gewissen mathematischen Modellen gefordert werden. Noch immer hat sie keines davon gefunden.
2) Sabine Hossenfelder interviewt für ihr Buch auch verschiedene Physiker rund um die Welt. Nicht allerdings Brian Greene. Wo er in den Interviews zwei oder drei Mal erwähnt wird, spürt man meist eine leichte Irritation bei den Gesprächspartnern heraus, darüber wohl, dass Greene das Schöne und Elegante an der Stringtheorie so sehr in den Vordergrund schiebt, also implizite, grundlegende, aber nicht zu rechtfertigende Vorannahmen der Physik öffentlich macht. Ich habe seinerzeit das Buch The Elegant Universe, das Eleganz schon im Titel trägt, äusserst faszinierend gefunden und mit grossem Vergnügen gelesen. Aber „Vergnügen“ ist in diesem Zusammenhang auch nur eine ästhetische Kategorie…
– Korrektur meines Beitrags –
(bitte die folgenden Formulierungen als Beitrag verwenden)
„Hossenfelder gibt Leibniz die Schuld an diesem Schönheitswahn der Wissenschaft.“
Wenn Sabine Hossenfelder das tatsächlich so behauptet (ich habe ihr Buch noch nicht gelesen), dann ist das philosophie- bzw. wissenschaftsgeschichtlich ein „bisserl“ zu kurz gegriffen. Denn die geschichtlichen Ursprünge des Strebens nach Mathematisierung der Naturwissenschaft sind fast zweitausend Jahre VOR Leibniz anzusiedeln – und zwar bei Parmenides, Platon und vor allem den Pythagoräern und deren Diktum, dass die Zahl Prinzip und Urstoff aller Dinge ist: „Alles aber gleichet der Zahl“. (Man beachte den essentiellen Unterschied zwischen „ist“ und „gleichet“!)
Von daher führt eine direkt Linie zu Galileo Galieis, die Naturwissenschaft der Neuzeit zutiefst prägende Auffassung: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben und ihre Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es ganz unmöglich ist auch nur einen Satz zu verstehen, ohne die man sich in einem dunklen Labyrinth verliert“.
In der so formulierten Galileischen Befürchtung, sich ohne die Hilfe der Mathematik (sei es nun Geometrie oder Arithemetik) „in einem dunklen Labyrinth“ zu verlieren, ist auch das Hauptmotiv für die Mathematisierung der Naturwissenschaft zu finden: die Natur „ist“ zwar nicht Zahl sondern „gleicht“ ihr nur, aber sie ist nichtsdestoweniger DAS formale Erkenntnismittel zur Erschaffung eines geordneten, nachvollziehbaren und präzisen Bildes bzw. Modells der Natur und insofern unentbehrlich.
Nicht irgendein „Schönheitswahn der Wissenschaft“ ist also der Grund für die mathematische Modellierung der Welt durch die Wissenschaft, sondern das bereits in seit der griechischen Antike bestehende und in der Neuzeit wieder aktualisierte naturwissenschaftliche Erkenntnisideal, dem empirischen Wissen über die Natur vermittels mathematischer Modellierung eine intersubjektiv nachvollziehbare, objektive und präzise Darstellungsform zu geben.
Ich habe vor ein paar Wochen auch mit dem Gedanken gespielt, dieses Buch zu lesen: Aber deine Besprechung hat mir nicht wirklich Lust gemacht. Da ist jemand, der plötzlich ganz genau weiß, warum die (theoretische) Physik auf der Stelle tritt (sofern sie das überhaupt tut), aber diese „ästhetische“ Begründung will mir ziemlich dubios erscheinen. Zwar schwärmt so mancher Mathematiker oder auch Physiker von eleganten Lösungen (die es auch häufig sind), ich habe aber noch niemanden aus dieser Zunft erlebt, der eine weniger „schöne“ Lösung aus ästhetischen Gründen verworfen hätte. Alle Physiker, die ich kenne, suchen primär nach Lösungen (und ich kenne auch solche, die am CERN arbeiten bzw. gearbeitet haben) und nicht nach Schönheit, diese ergibt sich (manchmal) aus den Lösungen (und ist schön auch nur für die Leute vom Fach). Mir deucht, dass da jemand einen einzelnen Gedanken (der ein ganz kleines und unbedeutendes Körnchen Wahrheit enthalten könnte) breit tritt und eine Art Ideologie draus macht. Mich überzeugt das nicht – und die Physiker wohl genau so wenig. (Ein wenig bin ich da an Popper erinnert, der eine diffizile Methodik entwickeln wollte und nicht zur Kenntnis nahm, dass dieses zwar logische Gerüst nicht der Praxis gerecht wird. Die Heuristik entzieht sich der Methodik, die Überprüfung in geringerem Grad (wobei auch hier je nach Sachlage manchmal der Hausverstand waltet und man Falsifizierungen zu Recht skeptisch gegenübersteht. Usf.))