Man könnte meinen, wir befinden uns irgendwo im Mittleren Westen der USA, wenn man den Namen des Events liest. (Ja, ich weiß: Selbst der Begriff „Event“ gehört zu jenem neudeutschen Vokabular, das in gewissen ‚Szenen‘ heute um sich greift. Passons.)
Food & Drinks at the Valley heißt ein im Grunde genommen recht kleines Streetfood-Festival, das dieser Tage vor den Toren der Stadt Winterthur stattfindet. (Wobei in die Richtung dieses Festivals, nämlich gegen Kemptthal, die Stadt schon lange keine Tore mehr aufweist.) Kemptthal ist den älteren Schweizern noch ein Begriff als Standort der Firma Maggi. In meiner Kindheit war in jedem Restaurant, in jedem Ménage, ein dunkelbraunes Fläschchen mit gelb-rotem Etikett präsent, dessen Inhalt eine Flüssigwürze, die man nach Belieben über sein Essen schütten konnte. Ein Onkel von mir pflegte seinen Salat damit reichlich zu begießen, um, wie er sagte, das Ungeziefer darin abzutöten. Mir persönlich gefiel der Geschmack dieser im Aussehen an Worcester- oder Soya-Sauce erinnernden Flüssigkeit nicht allzu sehr. Ich denke, es ist der reichlich hinzugefügte Kerbel, das Markenzeichen von Maggi. Die Firma wurde im 19. Jahrhundert in Kemptthal gegründet, und es wurden dort, wenn ich mich recht erinnere, noch bis ins 21. Jahrhundert hinein Maggi-Artikel produziert. Irgendwann Anfang des 21. Jahrhunderts gab Maggi den Produktionsstandort Kemptthal dann auf. Eine Zeitlang lagen die Gebäude brach, dann zog der Parfum-Hersteller Givaudan ein, der allerdings, wenn ich das richtig verstanden habe, mittlerweile auch große Teile des Areals wieder abgegeben hat.
Jetzt, 2019, versucht eine Investment-Gesellschaft, das Areal unter dem Namen The Valley als Event-Location (um mal im neudeutschen Jargon zu bleiben) einerseits, als Standort für kleinere Kreativ-Unternehmen andererseits, zu vermarkten. Und so ein Event, der das Areal wieder bekannt machen soll, ist offenbar Food & Drinks at the Valley. Ich habe ja eine Schwäche für solche Streetfood-Festivals, und außerdem kannte ich das Maggi-Areal, wie es bei uns immer noch heißt, noch gar nicht von nahem. Also nichts wie hin.
Es fährt eine einzige S-Bahn von Winterthur nach Kemptthal – was schon die Wichtigkeit des Örtchens zeigt. Die Station ist entsprechend klein, die Unterführung unter den Gleisen hindurch auf das, was man „Bahnhofplatz“ nennen könnte, eng (kaum haben 2 Menschen nebeneinander Platz) und dunkel (die vorhandene Beleuchtung offenbar durch Vandalismus außer Betrieb gesetzt). Bronx Feeling. Das Maggi-Areal völlig disproportional zum Bahnhof – selbst mehr Geleise als dieser weist es auf. (Oder besser gesagt: Wies es auf. Die Schienen sind mit Teer gefüllt worden: Wo nichts mehr produziert wird, muss auch nichts mehr abtransportiert werden.)
Schon beim kurzen Fußmarsch vom Bahnhof zum Areal fällt auf, dass man für dieses Festival vieles wollte: Es empfängt einen eine Oldtimer-Ausstellung, die aber nur klein ist und offenbar etwas desorganisiert – keines der Autos war irgendwie näher ausgezeichnet bzw. beschrieben. Je nun, wir waren nicht der Autos wegen da. Dann kam die eigentliche Street-Food-Meile. Na ja, „Meile“ ist übertrieben; es waren vielleicht ein Dutzend Anbieter da: Pulled Pork und Pulled Beef in verschiedenen Varianten, dito Burger, ein Anbieter von afrikanischem Essen als Exot im doppelten Sinne, Pizza und Würstchen, an mehr erinnere ich mich nicht. Die Straße nicht allzu breit, aber es reichte zum Durchkommen – so viele Leute hatten den Weg nach Kemptthal nicht gefunden. Der Punkt leider, auf den die Organisatoren am meisten stolz waren, ist genau der Punkt, der meine Begleiterin und mich am meisten störte. Neben bzw. zwischen der lieblosen Anordnung von Essensständen war da noch ein umgebauter Güterwaggon zu finden. Umgebaut zu einer Konzertbühne. Wir waren gestern Abend da, also Samstagabend. Also Konzert. Nicht akustische Gitarre, sondern elektronisch verstärkte Pop-Musik (Baba Shrimps, wem der Name etwas sagt). Laut. Sehr laut. Wuchtige, wummernde Bässe, die auf Wunsch des Bassisten während des Konzerts noch verstärkt wurden. Die ganze Verstärker-Einrichtung hätte ein recht großes Stadion mit Ton füllen können – für die schmale Straße hier war sie völlig überdimensioniert. Ich mochte es schon als junger Mann an Konzerten nicht, wenn meine Ohren zu sausen begannen und mein ganzer Körper mit dem Bass vibrierte.
Je nun. Verhungert sind wir trotzdem nicht. Mein Sandwich mit Pulled Pork war ok – ein bisschen viel Cole Slaw, die extra-scharfe Sauce allenfalls scharf, aber das Brötchen frisch gebacken und knusprig. Der Hot-Dog meiner Begleiterin ebenfalls ok – das Würstchen Durchschnitt, das Brötchen laberig, aber das Topping exzellent. Auch verdurstet sind wir nicht. Das Bier stammte von einer mittelgroßen Schweizer Brauerei in St. Gallen. Es war soweit ok, wie die ganze Kulinarik hier halt. Aber ich verstehe nicht, warum ich bei einem Food & Drinks-Event vor den Toren Winterthurs kein wirklich lokales Bier kriege. Es wurde an andern Ständen auch Wein ausgeschenkt – südafrikanischer Wein. Selbst eine Gin-Bar habe ich gesehen. Woher der Gin stammte, habe ich nicht nachgesehen – Wein wie Gin passt für mich nicht so ganz mit Street-Food zusammen; man hätte bereits mit Nahrung im Bauch dafür herauskommen müssen. (Oder im ebenfalls vorhandenen Restaurant – wahrscheinlich die ehemalige Kantine – essen müssen. Wir haben es zu spät gesehen.)
Summa summarum: Wir sind nach knapp einer Stunde wieder mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Relativ unbefriedigt und vor allem von der Atmosphäre wenig angetan. Es war aber ein Glück für uns, dass wir früh nach Hause gingen, denn wir waren kaum dort angekommen, als das wohl heftigste und wasserreichste Gewitter über Winterthur hereinbrach, das ich bisher hier erleben durfte. Ich kannte so etwas vorher nur aus den Tropen. Es soll mir keiner sagen, den Klimawandel gäbe es nicht…
(Dieses Gewitter hat uns dann auch für beinahe 24 Stunden das Internet abgestellt.)