Das Angenehme an diesem Buch ist gerade die Tatsache, dass Pinker von seiner Kritik Umweltbewegungen und linksliberale Strömungen nicht ausnimmt. Auch wenn es – leider – nicht unerheblich viele Wähler gibt, die einem Trump, Salvini, Farage und Konsorten unterstützen, so ist man unter Wissenschaftlern und Intellektuellen doch durchwegs einer Meinung, dass diese Form des Denkens obsolet, argumentativ kurios bis lächerlich und insgesamt nur insofern ernst zu nehmen ist, als dass es eben Menschen gibt, die sich mit derart obstrusen Gedankengut identifizieren können. Nicht die Sache an sich, sondern ihr Erfolg ist diskutierenswert. Anders hingegen verhält es sich mit vielen wissenschaftsfeindlichen Strömungen, die gerade in der Philosophie der letzten Jahrzehnte großen Zulauf erhielten: Relativismus, Rationalismuskritik, die Kritische Theorie und die Postmoderne in all ihren Variationen: Aus diesem Bereich speisen sich sehr viele Vorbehalte linker Bewegungen gegen den Fortschrittsbegriff oder auch die Angst „grüner“ Parteien vor unterschiedlichen Arten der Wissenschaft – ob es sich nun um die Atomkraft* handelt oder um Forschungen, die mit „Gen“ beginnen und aufgrund dieser Bezeichnung ohne alles Nachdenken als verwerflich deklariert werden.
Über die Jahrzehnte ist es Linken und Umweltbewegungen gelungen, Technik und Wissenschaft (bzw. das, was darunter verstanden wird) zu desavouieren, obwohl es ausschließlich dieser Fortschritt ist, der uns heute ein Leben ermöglicht, dass im Vergleich zu jeder anderen historischen Zeit wundervoll genannt werden kann. Wir leben länger, wir leben glücklicher, wir haben mehr Freizeit, können uns in einem Maße „selbst verwirklichen“, wie das noch keiner Generation vor uns möglich war. Wir leben mittlerweile in einer Welt, in der mehr Menschen an falscher Ernährung, an Übergewicht sterben als am Hunger, nie zuvor hatten Minderheiten mehr Rechte, waren Frauen besser gestellt, wurden Homosexuelle weniger verfolgt. Das bedeutet selbstredend nicht, dass es nicht noch sehr viel zu verbessern gibt in allen diesen Bereichen, sondern dass Feststellungen, wie schlecht es um unsere Welt bestellt ist angesichts eines sexistischen US-Präsidenten, einer wieder erstarkten Rechten in Europa oder autokratischen Herrschern in vielen muslimischen Staaten, schlicht falsch sind. Und ich bin mit Pinker einer Meinung, dass es – selbst wenn die Macht der Rechtspopulisten noch zunimmt – viele der erkämpften Rechte nicht wieder verloren gehen werden (man vergisst, dass noch Mitte der 70er des 20. Jahrhunderts Frauen in Österreich und Deutschland eine Einwilligung ihres Ehemannes benötigten, um einer Arbeit nachgehen zu dürfen). Vieles von all dem dürfte irreversibel sein, auch eine erneute Kriminalisierung der Homosexualität scheint eher undenkbar. Dazu kommt, dass jede neue Generation offener und liberaler als die vorhergehende ist, dass es (entgegen der landläufigen Meinung) in der Jugend weniger Rassismus, Sexismus, Homophobie gibt als je zuvor. Rechtskonservative Parteien werden vor allem von älteren Männern gewählt, wobei Pinker auch nachzuweisen sucht, dass sich die politische Einstellung im Laufe des Lebens sehr viel weniger von links (Jugend) nach rechts (Alter) verschiebt als angenommen.
Interessant sind die Untersuchungen, die Pinker für die Voreingenommenheit, die Irrationalität oder Dummheit von Wahlentscheidungen (besonders bezüglich der Erfolge von Rechtspopulisten) anführt: Es ist nicht so sehr die mangelnde Bildung, die Unfähigkeit zu rationalem Denken, die zu widersinnigen Beurteilungen von Fakten führt, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe an sich, die den Blick verstellt (und je stärker sich jemand zu einer Partei, einer Strömung bekennt, desto weniger ist er – unabhängig von seinem Wissensstand, seiner Bildung – bereit bzw. fähig, logische Schlussfolgerungen zu ziehen). Auch wenn es stimmt, dass Rechte zumeist eine geringere Bildung aufweisen, weniger Offenheit etc., so sind dies eben nicht die entscheidenden Faktoren; Linke schnitten bei solchen logischen Tests kaum besser ab und waren ebenso vorurteilsbehaftet wie Rechte. Es scheint, als ob mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl (zu welcher Gruppe auch immer) die Fähigkeit zur objektiven Beurteilung von Tatbeständen abnimmt – und wer sich jemals mit Anhängern von Foucault, der Postmoderne oder der Kritischen Theorie auseinandergesetzt hat, wird festgestellt haben, dass diese Diskussionen um keinen Deut rationaler sind als solche mit Ausländerhassern oder Homophoben.
Und das liegt an der intellektuellen Blasiertheit vieler dieser „Denker“: Foucault hat sich etwa für Khomeini begeistern können, Bloch oder Brecht für Stalin, Vertreter der Kritischen Theorie** für Ho Chi Min oder Pol Pot, Sartre für Mao oder die Mitglieder der RAF. Mit dieser politischen Einfalt ging (und geht) fast immer eine völlig unkritische Wissenschaftskritik einher, die sich in relativistischen Positionen äußert (wie bei Feyerabend und Konsorten, die Wissenschaft als eine Mythologie beschrieben haben) oder aber jegliche Rationalität (etwa im Gefolge von Nietzsche und Heidegger) in Zweifel zogen. (Dass eine solche Argumentation in sich absurd und widersinnig ist, sollte gerade einem Philosophen auffallen: Wer sich einer logischen Argumentation verweigert, kann natürlich auch keinen Anspruch darauf erheben, dass ihm (aufgrund welcher Begründung? – eine solche lehnt er ja ab) geglaubt wird. Ja, er kann noch nicht einmal einen anderen kritisieren oder eine Behauptung aufstellen, wenn er sich den den Diskurs begründenden logischen Argumentationen verweigert.) Das hat sich vor allem für die Umweltbewegung als Crux herausgestellt, die Rousseauschen Träumereien nachhängt und Nachhaltigkeit weitgehend technikfrei bewerkstelligen will (vor allem gentechnikfrei***). Hier werden die größten (und wohl auch einzigen) Chancen für eine humane Welt auf einfältige Weise abgelehnt: Wir werden nur durch wissenschaftliche Anstrengungen, durch Forschungen unsere Umweltprobleme in den Griff bekommen, keineswegs aber durch Rückkehr zu einer ineffizienten Landwirtschaft (durch die sich man drei Viertel der Menschheit entledigen müsste). Das heißt natürlich nicht, dass Forschung nicht verantwortungsvoll erfolgen, dass es keine Risikoabwägung geben soll (und man sich im Zweifelsfall – aber was ist ein solcher? – nicht gegen eine Innovation entscheiden sollte), aber wir müssen uns darüber im klaren sein, dass es einen Weg zurück zu einem vermeintlich schönen Leben im Einklang mit der Natur nicht gibt – und dass ein solches Leben auch nie existiert hat.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wirtschaftssystem: Auch hier wird gern in Dichotomien gedacht – man entscheidet einzig zwischen neoliberalem, uneingeschränkten Kapitalismus und staatlich gelenkten Systemen. In realiter haben wir nirgends einen solchen „Raubtierkapitalismus“ (auch nicht in den USA, Pinker zeigt, wie stark die Sozialausgaben auch dort gestiegen sind): Sondern gemäßigt kapitalistische Systeme (die durchaus negative Auswüchse haben), die aber entgegen allen Formen von Staatsdirigismus für die Menschen ein größeres Maß an Freiheit und Reichtum gebracht haben (selbst die Ärmsten Westeuropas waren gegenüber den Bewohnern der Ostblockstaaten im Vorteil). Und auch die Zivilisationskritik ist verfehlt: Die Mär vom dümmlichen Konsumenten, der vertrottelt vor dem Fernseher sitzt (mittlerweile vor dem Computer und dem Smartphone) hat sich als Märchen erwiesen. Die Menschen heute sind wissender, intelligenter als zu jeder anderen Zeit in der Geschichte (dieser Anstieg des Intelligenzquotienten – um fast 30 Punkte in den letzten 120 Jahren – wird auch geflissentlich übersehen: Meldungen von Unbildung, der „Generation Doof“ verkaufen sich sehr viel besser als der Hinweis, dass unsere Schüler immer mehr wissen).
Pinker sieht die Problematik in parteiischer Voreingenommenheit, in einem Mangel an Offenheit oder Bereitschaft zur Objektivität – auf jeder Seite des politischen Spektrums. Und er zeigt anhand umfangreichen Zahlenmaterials, dass entgegen weitverbreiteter Meinungen unser Leben immer schöner, besser und angenehmer wurde. (Dies können all jene, die schon 50 oder mehr Jahre auf dieser Erde weilen, aus eigener Erfahrung zumeist bezeugen: Zahnarztbesuche in meiner Kindheit waren nicht geprägt von einfühlsamen Ärzten und eine Knie- oder Blinddarmoperation – genäht mit 20 Stichen oder mehr – eine wenig angenehme Prozedur im Vergleich zu den heutigen endoskopischen Verfahren.) Die einzige wirkliche Gefahr scheint derzeit (auch für Pinker) die Erderwärmung zu sein: Nicht weil wir nicht gegensteuern könnten, sondern weil wir hier durch Nachlässigkeit einen sich selbst verstärkenden Prozess auslösen könnten, der irreversibel ist. Das würde zu Wanderbewegungen führen, die unsere derzeitige „Flüchtlingskrise“ (die diesen Namen nicht im mindesten verdient) wie einen Schulausflug aussehen ließe. Um solche Szenarien zu verhindern, müssen wir uns der Wissenschaft, der Forschung bedienen, unserer Rationalität und sollten den Weltuntergangspropheten jedweder Provenienz das Wort entziehen. Und auch über mögliche wissenschaftliche Tabus muss rational diskutiert und nicht via Bauchgefühl entschieden werden: Denn es ist dieses Erbe der Aufklärung, das uns ein Leben beschert hat, um das uns alle vergangenen Generationen beneiden würden.
*) Eine meiner Lieblingsfragen ist jene nach der Zahl der Toten beim Reaktorunglück in Fukushima: Kaum jemand tut es unter einigen tausend Opfern. Tatsächlich gibt es bisher ein (in Zahlen: 1) Strahlenopfer, der bei den Aufräumarbeiten einer zu hohen Strahlung ausgesetzt war. Das bedeutet nicht, dass ich die Gefahren klein reden will: Es ist tragisch für die vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und nun in latenter Unsicherheit ob der Folgen leben müssen. Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen: Von Tschernobyl abgesehen (und dieser Unfall war nicht so sehr auf technische Probleme sondern menschliche Überforderung und Profilierungssucht zurückzuführen) ist die Gefahr, vom Blitz oder einem Dachziegel erschlagen zu werden ungleich größer als aufgrund eines Reaktorunfalles zu sterben.
**) Wie wenig kritisch mit der Kritischen Theorie verfahren wird, zeigt sich an den Lobhudeleien zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas: Ich kenne kaum einen Philosophen, der seine Ansichten häufiger gewechselt, sein Fähnchen öfter nach dem Wind gehängt hat (etwa im Gegensatz zu Hans Albert, dessen kluge Widerlegungen Habermas‘ längst vergessen scheinen) und der trotzdem ständig als ein „kritischer“ Geist gewürdigt wird. Und der nichts weniger als kritisch war, sondern peinlich anmutende Diskursprogramme mit Letztbegründungsanspruch verkündet hat.
***) Über die Hälfte der Konsumenten in Deutschland gehen da noch weiter und wünschen sich genfreie Lebensmittel. No comment.
Steven Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Frankfurt a. M.: Fischer 2018.
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