Alex ist Anführer einer Jugendgang, sein Verhalten ist völlig amoralisch, einzig auf den eigenen Vorteil bedacht, ohne jegliche Empathie für die Opfer. Dabei handelt es sich um „sinnlose“ Gewalt, das Quälen unbeteiligter Personen ebenso wie um Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Mord. Es gibt keine moralischen Bedenken, ja noch nicht einmal Überlegungen in dieser Hinsicht: Die Clique handelt völlig ohne Skrupel (scheint von diesen Dingen kaum etwas zu ahnen), ist nur auf Vergnügen, den momentanen Sinnesgenuss bedacht und sieht ihre Taten auch nicht in einem gesellschaftlichen Kontext.
Ein Streit innerhalb der Gruppe führt nach einem Einbruch in eine Villa (deren Besitzerin zu Tode kommt) zur Verhaftung von Alex. Wobei durch diesen Streit die Inexistenz einer Form von „verbrecherischer Berufsehre“ aufgezeigt wird: Man hält nur zusammen unter der Bedingung, dass sich daraus Vorteile ergeben, keinesfalls aber fühlt man sich verpflichtet, aus Gründen der Verbundenheit mit den anderen diesen gegenüber loyal zu sein. Alex wird zu 15 Jahren Haft verurteilt und lebt sein Leben im Gefängnis weiter: Die Lage dort eskaliert, als er im Gefängnis einen Mitgefangenen erschlägt. (Dort ist es dasselbe mit dem Zusammenhalt: Man ist froh, die Tat auf jemanden abschieben zu können, jeder ist sich selbst der nächste.) Alex erfährt, dass es für ihn doch eine Möglichkeit gibt, einem jahrelangen Aufenthalt hinter Gittern zu entkommen: Er meldet sich freiwillig zur sogenannten „Ludovico-Methode“, von der er allerdings vor der Behandlung keine genaue Vorstellung hat.
Diese besteht in einfachen Injektionen, die ihm einen körperlichen Widerwillen gegen jede Form von Gewalt (aber auch Sexualität und – durch ihre Verbindung von Gewaltfilmen, die er sich anzusehen gezwungen wird – gegen Musik) auslöst. Schon nach 14 Tagen wird er als geheilt entlassen und trifft nun auf seine früheren Opfer, deren Rache er nun schutzlos ausgeliefert ist. Offenkundig scheint es einzig eine Machtfrage zu sein, keine Frage der Moralität, ob jemand einem anderen Gewalt antut. Jedenfalls verhalten sich die Opfer nicht anders als Alex selbst; besonders perfide ist ein Schriftsteller (den Alex überfallen und dessen Frau er vergewaltigt hat), der ihn als ein Mittel für seine eigenen politischen Absichten missbraucht und ihn gezielt zum Selbstmord treibt, um die Regierung bei den bevorstehenden Wahlen zu stürzen. Alex überlebt den Sturz aus dem Fenster, wird durch den Krankenhausaufenthalt „geheilt“ (durch den großen Blutverlust bzw. -austausch geht die Wirkung des Ludovico-Serums verloren) und führt sein früheres, „normales“ Verbrecherleben fort. Der Schluss befremdet ein wenig und mutet seltsam an: Aus kaum nachvollziehbaren Gründen entdeckt er die Liebe zu Kindern, wünscht sich eine Familie und sagt sich von seinem vorherigen Leben los.
Von diesem skurrilen Ende abgesehen ist der Roman eine sehr dichte, gelungene Beschreibung jugendlicher Unmoral, einer sterilen, kalten Gesellschaft, die solches Verhalten fast zwangsläufig nach sich zieht. Die moralphilosophische Frage, die sich beim Einsatz der Ludovico-Methode stellt, ist offenkundig: Kann von jemanden, dessen Willensfreiheit medikamentös eingeschränkt wird, noch behauptet werden, er sei ein guter oder schlechter Mensch? (Immer vorausgesetzt, dass eine solche Willensfreiheit überhaupt existiert.) Und darf Derartiges gesellschaftlich erlaubt sein, sanktioniert werden? Wie steht es um Zwangsbehandlungen, bei denen den Betroffenen eine ungenügende Einsicht unterstellt wird und denen daher diese Entscheidungsfreiheit genommen wird? Ich habe diese Thematik als typisch empfunden für die Zeit, in der das Buch erschienen ist (englisch 1962, deutsch 1972) und glaube mich an viele Diskussionen zu erinnern, in der solche Fragen mit Nachdruck und Verve diskutiert wurden. Die Auflehnung gegen die Macht des Staates, gegen eine Obrigkeit, die sich ihrer Macht bedient, um ihr gemäße Bürger zu erziehen, der Kampf gegen Autoritäten jeder Art (ob in der Schule, daheim oder an der Universität) – und das alles mit einem anarchisten, egalitären Anstrich. Diese Wut scheint verloren gegangen zu sein (wohl auch, weil der Druck auf die heutigen Jugendlichen ungleich geringer ist), aber auch die partielle Dummheit, die sich in vielen solchen Diskussionen entlud (wenn etwa Marxisten gegen das „System“ argumentierten und jedem, der ihre Meinung nicht teilte, das Recht für eine solche Position absprach, weil dieser Widerspruch als reaktionär und aufgrund einer „falschen“ bürgerlichen Einstellung geäußert wurde, einer Einstellung, durch deren Falschheit man von vornherein desavouiert wurde). Man kann nicht nur nicht richtig im falschen leben, man kann auch aus einer nicht-marxistischen Position heraus nicht richtig argumentieren.
Das Buch ist auch heute noch sehr lesbar, wobei es ein besonderes Lob wegen seiner Sprache verdient (ich habe es in deutscher Übersetzung gelesen): Die Darstellung einer anarchisch anmutenden Jugendsprache, die Ausdruck der oppositionellen Haltung gegenüber der Gesellschaft ist, scheint mir ausnehmend gut gelungen. Es ist ein Buch im Geist der 68er-Bewegung, deren Anliegen wenigstens teilweise noch immer aktuell sind (wenn sie auch bessere Lösungen wie damals finden sollten).
Anthony Burgess: Uhrwerk Orange. München: Heyne 1992.
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