Gelesen in folgender Ausgabe:
Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn. Mit einer Einleitung von Kurt Oesterle sowie zusätzlichen Quellen und Materialien. Tübingen: Klöpfel & Meyer, 2017
Die zusätzlichen Quellen und Materialien bestehen vor allem aus Tagebucheinträgen Waiblingers, die er anlässlich seiner Besuche bei Hölderlin niedergeschrieben hat.
Verlag und Herausgeber taten gut daran, den recht kurzen Text Waiblingers zu ergänzen. So ist es ihnen – das sei vorweggenommen – gelungen, ein gutes Bild vielleicht nicht Hölderlins, sicher aber Waiblingers zu liefern.
Den Anfang macht Kurt Oesterles Einleitung
»Der Mann im Turm als Menetekel«. Das vielschichtige Hölderlin-Porträt des Radikalromantikers Wilhelm Waiblinger
Man muss, um eine Einleitung zu einem fremden Text zu schreiben, diesen Text und dessen Autor mögen. Oesterle mag Waiblinger (und Hölderlin) eindeutig. Das wird schon aus den einleitenden Worten seines Essays klar:
[Waiblinger hatte – nach einem „Liebesskandal“ (er hatte sich mit einer verheirateten Frau eingelassen)] Universität und Stadt [Tübingen] für immer verlassen, war als freier Kulturkorrespondent nach Rom übergesiedelt, um dort am 17. Januar 1830, mit kaum 26 Jahren, zu sterben, vermutlich an den Folgen einer Syphilis. In Rom liegt er auch begraben, auf dem dortigen Protestantenfriedhof, nahe bei Keats und Shelley, aber noch näher beim einzigen Sohn eines Hochberühmten aus deutschen Landen, auf dessen Grabstein nicht einmal sein eigener Name steht, sondern nur: »Goethe Filius«.
Man sieht, worauf Oesterle hinaus will: Waiblinger hätte einer der ganz Großen werden können, einer wie Heine – auf seine Art. Hölderlin war ihm dabei eine Art Spiegel. In Hölderlins Dichtung sah Waiblinger, was Dichtung zu leisten vermag, und was er selber natürlich auch leisten wollte. Vor allem der Briefroman Hyperion faszinierte Waiblinger über alle Massen. Er schrieb selber ein Gegenstück dazu, das er Phaeton nannte.
Auf der Seite des Lebens, nicht der Dichtung also, sah Waiblinger ebenfalls Gemeinsamkeiten; auf dieser Seite sah er sich allerdings Hölderlin auch überlegen. Der Humor, den er in seinem veröffentlichten Text Hölderlin ganz absprach: Den hatte er selber zur Genüge, seiner Meinung nach. Und wenn er in seiner Kurzbiografie davon sprach, Hölderlin
[…] wurde, wie er selbst in seinen spätern Jahren, ja noch zur Zeit seines Irrens sagte, von außen bestimmt, und gezwungen, sich der Theologie zu widmen. Dies widersprach gänzlich seiner Neigung. Er hätte sich gern dem Studium der alten Literatur, den schönen Künsten, vorzüglich der Poesie, und auch der Philosophie und Ästhetik ausschließlich überlassen mögen.
so führt er hier etwas an, für das es keine anderen Quellen gibt als ihn selber. Es gibt keine weiteren Dokumente dafür aus der Zeit vor dem Tübinger Turm, und, einmal dort, hat sich Hölderlin immer geweigert, Hölderlin zu sein. Weshalb hätte er sich also zu seinem Studium äußern sollen? Nein – bewusst oder nicht – hier spricht Waiblinger von sich selber und benützt Hölderlin als Schutzschirm für seine eigene Entscheidung. (Eine Entscheidung übrigens, die – zusammen mit dem Skandal – zum Bruch seiner Freundschaften mit Uhland und, vor allem, mit Mörike führte. Letzterer, kulturkonservativ, wie ihn Oesterle nennt, konnte weder das eine noch das andere verstehen. Die viel zitierte Ironie des Schicksals wollte es, dass Mörike selber in seinem Pfarramt nicht glücklich geworden ist.)
Waiblinger ist für Oesterle auch der, der mit seinem Interesse für den Wahnsinn und mit seinem Schreiben darüber, sozusagen eine neue literarische Gattung in die deutsche Literatur eingeführt hat. In seinen Fußstapfen sollten sich – nach Oesterle – zum Beispiel ein Büchner mit seiner Novelle Lenz bewegen, oder, viel später, Carl Seelig mit seinen Wanderungen mit Robert Walser.
Zum Schluss zitiert er ein längeres Stück aus Walter Muschgs Studien zur tragischen Literaturgeschichte von 1965, der vorschlägt, dass man sich Hölderlins Wahnsinn nicht über die Psychiatrie annähern solle, sondern über Hölderlins Gedichte. Was für Oesterle eine Bestätigung ist des Weges, den auch Waiblinger eingeschlagen hat, um sich dem Mann im Turm anzunähern.
Tagebucheinträge und andere Texte Waiblingers zu Hölderlin
Vor allem die Tagebucheinträge bestätigen das Bild Waiblingers als eines, der in Hölderlin letztendlich sich selber suchte und fand. Dabei begegnet er dem Mann im Turm mit grossem Respekt, zu Beginn wohl auch mit ein wenig Angst, galt doch Hölderlin als einer, der unter Umständen gewalttätig werden konnte. Diese Angst war allerdings rasch überwunden. Am 7. August 1822 notiert Waiblinger:
Dieser Hölderlin regt mich auf. Gott, Gott! diese Gedanken, dieser kühne hohe reine Geist und dieser wahnsinnige Mensch!
um zwei Tage später hinzuzufügen:
Der »Hyperion« verdient die Unsterblichkeit so gut als »Werther« und besser als die Messiade.
womit er ‚in the long run‘ sogar Recht behalten sollte.
Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn
Der bei Cotta 1827/28 erschienene Text wurde bereits in Rom geschrieben. Waiblinger schrieb ihn offenbar aus dem Gedächtnis heraus, ohne weitere Dokumente zu Hilfe zu nehmen als vielleicht sein früheres Tagebuch. So kommt es auch, dass er zugeben muss, nicht einmal zu wissen, ob der Unglückliche, über den er da schreibt, noch am Leben sei. (Er war es: Hölderlin sollte Waiblinger um 13 Jahre überleben!) Das riecht tatsächlich, wie Horowski meint, nach reiner Geldgier – je nun: ein freischaffender Künstler muss schauen, wie er sich nicht nur die Butter aufs Brot, sondern das Brot überhaupt beschafft.)
Ansonsten fällt auf, dass Waiblinger den Lyriker Hölderlin mit dem früh verstorbenen Hölty vergleicht, mit Mathisson. Dass er zwar Schelling unter Hölderlins Freunden erwähnt, aber nicht Hegel. (Dessen Aufstieg er wohl in Rom nicht mitbekommen hatte, oder von dessen Verbindung zu Hölderlin er nicht wusste.)
In dieser Ausgabe also durchaus lesenswert – auch wenn ich Oesterles an Heldenverehrung grenzende Darstellung Waiblingers etwas übertrieben finde. Aber, wie gesagt, um Vorworte und Einleitungen zu schreiben, muss man den Gegenstand seiner Schreibe wohl lieben und verehren. So, wie auch Waiblinger seinen Hölderlin verehrte und sich ‚einverleibte‘.
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