Ist das Kunst oder kann das weg?

Wer in diesen Tagen den Bahnhof Biel in Richtung Bahnhofplatz verlässt, wird sich unter Umständen obige Frage stellen. Das heißt, wer das zum ersten Mal tut, wird zunächst wohl andere Fragen haben. So ging es jedenfalls mir, als ich neulich in Biel war.

Draußen vor dem Bahnhofsgebäude sieht man nämlich, wenn man in der Vorhalle steht, zuerst nur Teile einer braunen Wand aus Pressspan. «Aha! Eine Baustelle!», ist der erste Gedanke. Wenn man dann allerdings aus der Vorhalle auf den Bahnhofplatz hinaustritt, sieht man, dass die braune Wand Teil eines Holzgebäudes ist, das den ganzen Platz einnimmt – und dies sogar auf zwei Etagen. Das Ganze sieht aus wie das Baumhaus meiner Bubenträume: Wände aus Pressspanplatten, Geländer aus Paletten, Dächer aus Plastikfolie, die an hölzerne Dachlatten angenagelt ist, Terrassen, Treppen ‘rauf und ‘runter… Nur, dass dieses Baumhaus nicht auf einem Baum installiert ist. Als nächstes fallen einem dann auf die Wände geklebte Plakate ins Auge und mit Sprüchen versehene Leintücher, die an verschiedenen Orten hängen. Ein riesiger, quasi eingefrorener Protestmarsch? Eine politische Aktion? Wenn man dann die Sprüche liest, stellt man fest, dass es sich bei den meisten um Zitate aus den Schriften Robert Walsers handelt. Tatsächlich ist das Ding ein Kunstwerk, vom Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn gestaltet. Er nennt es Robert-Walser-Sculpture. Er will mit Lesungen, Ausstellungen, einer Bibliothek, einer Bar, Filmen, Dokumentationen, Wanderungen auf den Spuren Walsers, täglichen Vernissagen und einer projekteigenen Zeitung den Passanten und vor allem der Bevölkerung Biels den größten literarischen Sohn der Stadt, Robert Walser, wieder in Erinnerung rufen.

Schon in der Planungsphase stieß das Projekt auf Widerstand; schon heute freuen sich viele auf den Tag, wenn das Ganze wieder weg ist. Die Happening-Skulptur soll nämlich nur bis zum 9. September 2019 stehen. Nun bedeutet die Tatsache, dass ein Projekt auf Widerstand stößt, nicht unbedingt, dass es sich nicht um Kunst handelt. Eine der wichtigen Funktionen von Kunst ist es, nicht nur verzieren, sondern auch zu provozieren. Goethes Werther hat provoziert, desgleichen sein Götz oder Faust I. Und diese Werke Goethes sind bis heute provokativ. Kunst, die nicht immer von neuem provoziert, wird eines Tages vergessen. (Das soll im Übrigen keine vollständige ästhetische Theorie darstellen. Kunst hat noch andere Funktionen, die ich für meine Zwecke diesmal nicht brauche.)

Provokation kann immer auch missverstanden werden. Mir scheint sich in diesen Tagen eine ganz bestimmte und seltsame Form von Missverständnis in den Vordergrund zu drängen. Der Beispiele dafür sind viele. So, wenn ein Museum in San Francisco ein Gemälde ausstellt, das einige der hoch verehrten Präsidenten der US-amerikanischen Gründerzeit als das darstellt, was sie (auch) waren – als Sklavenhalter und in dieser Hinsicht keinen Deut besser, als alle anderen Sklavenhalter der Zeit –, dann provoziert das Bild wohl, aber nicht so, wie es vom Künstler beabsichtigt war. Es sind nicht rechte Kreise, die gegen eine Verunglimpfung ihrer geliebten Präsidenten protestieren. Es sind Linke, die in der Darstellung gequälter Sklaven eine Verletzung der Gefühle ihrer Nachfahren erblicken. Solche Rücksicht ist im Grunde genommen löblich, aber hier wird nun ‘political correctness’ ins Absurde getrieben. Denn mit dieser Einstellung verdrängt und verdeckt man die Vergangenheit, statt sie zu reflektieren und Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen. (Das Museum hat sich dafür entschieden, die entsprechenden Teile des Gemäldes mit Leintüchern zu verdecken. Man hat nun zwar politisch seine Ruhe, aber dabei natürlich seinen Auftrag als Museum verraten: Weichgespülte Kunst ist gar keine Kunst mehr.)

Überhaupt treibt die ‘political correctness’ manchmal seltsame Blüten. Wenn in den USA die beiden Bücher Tom Sawyer und Huckleberry Finn aus Schulbibliotheken verbannt werden, weil darin ständig Wörter für die schwarzen Sklaven verwendet werden, die heute als Beschimpfung gelten, so unterbindet man damit eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Geschichte von Sklaverei und Rassendiskriminierung. Mark Twain hat gerade durch eine ziemlich realistische Darstellung der Gesellschaft der sklavenhaltenden Südstaaten – wenn auch letzten Endes aus weißer Sicht – für eine Abschaffung der Sklaverei bzw. Gleichberechtigung der verschiedenen Hautfarben in den USA gewirkt. Die beiden Bücher – weil sie die rassistische Haltung so schön darstellen – könnten als Paradebeispiele helfen bei einer Aufarbeitung der Vergangenheit und damit Verbesserung der Gegenwart. So etwas sollte diskutiert werden, unter Weißen wie unter Nicht-Weißen. Hier sind Eltern, Lehrpersonen und andere Erziehungsberechtigte gefordert. Eine Verdrängung durch Verstecken vergangener Fehler hilft in der Gegenwart niemandem weiter – auch und gerade nicht denen, die sich (zu Recht!) von rassistischen Schimpfwörtern verletzt und angegriffen finden. In der gut gemeinten Absicht, keine Gefühle bei den Nachkommen der Zwangsimportierten zu verletzen, wird man letzten Endes genau das Gegenteil erreichen – eine Perpetuierung der Rassendiskriminierung, weil man die Auseinandersetzung mit ihren Erscheinungsformen scheut und lieber auf Verbote und Bemäntelung setzt.

Es gibt übrigens keinen Grund, lächelnd auf die USA herabzublicken. Solche seltsamen Blüten treibt die ‘political correctness’ auch in Europa. Prominentes Beispiel ist der Ersatz des Wortes «Neger» in der deutschen Übersetzung von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Pippis Vater darf heute kein Negerkönig mehr sein, weil man heute «Neger» als etwas begreift, was Leute mit dunklerer Hautfarbe beschimpft. So weit, so gut. Ich bin ja auch der Meinung, dass man im täglichen Sprachgebrauch darauf achten sollte, keine Wörter zu verwenden, bei denen sich die Bezeichneten beschimpft oder diskriminiert fühlen. Aber Änderungen in einem Buch aus dem Jahr 1949? Hier wird nicht nur in das Werk einer Autorin eingegriffen, die sich zu Lebzeiten immer dagegen gewehrt hat, in einmal vollendeten Büchern noch Änderungen durchzuführen. Hier geschieht noch etwas ganz anderes, etwas viel Gravierenderes als ein bloßer Eingriff in die Literatur- und Sprachgeschichte. Terrible simplification: An Stelle eines Negerkönigs ist Pippis Vater heute ein Südseekönig – Beschimpfung weg, alles gegessen. Oder doch nicht? Schauen wir einmal genau hin. Da ist also ein alter weißer Mann, der ohne besondere Qualifikationen und ohne von irgendwem gerufen worden zu sein, in der Südsee König wird. (Ich meine: Ich habe alle Hochachtung vor der Arbeit eines Schiffskapitäns und bin mir dessen bewusst, dass die Anforderungen für diesen Job schon 1949 hoch waren, und die Qualifikationen, die er erforderte, ebenfalls. Aber um ein Land zu führen – und sei es noch so klein –, braucht es doch andere Qualifikationen als die eines simplen Kapitäns. (OK – unsere aktuellen Regierungschefs weisen sie meistens auch nicht auf…)) Was ich sagen will: Ein weißer König in der Südsee vermittelt per se ein rassistisch-kolonialistisches Weltbild, das Bild vom weißen Mann, der selbstverständlich dem Farbigen jederzeit überlegen ist. Bei aller für seine Zeit recht ungewöhnlichen Unvoreingenommenheit, mit der er den Indigenen in der Südsee begegnete: Es ist auf dem Grund der Dinge noch immer dieselbe Haltung, mit der James Cook bereits in den 1770ern den eingeborenen Häuptlingen begegnete. (Und er sollte dafür mit dem Leben bezahlen.)

Was lernen die Kinder aus der Geschichte? a) Es ist nicht OK, andere Leute zu rassistisch zu beschimpfen (Gut – lernen sie nicht aus der Geschichte, muss ihnen schon vorher wer beigebracht haben. b) «Negerkönig» ist nicht OK, weil es eine rassistische Beschimpfung ist. c) Es ist aber OK und ganz normal, dass ein Weißer, der in einem exotischen Land voller Nicht-Weißer angespült wird, dort sofort deren König wird, weil ja c1) die Nicht-Weißen zu doof sind, sich selber zu regieren bzw. c2) gerade mal schlau genug, die moralisch-geistige Überlegenheit eines weißen Schiffsbrüchigen sofort zu erkennen und ihn sofort zu ihrem Chef zu machen. Wenn das kein Rassismus ist, weiß ich auch nicht. Astrid Lindgrens Neger verriet den 1940ern noch nichts von dieser despektierlichen Haltung. Zu selbstverständlich war sie in jener Zeit, um irgendjemandem – auch der Autorin nicht – aufzufallen. So konnte ihre Formulierung als sprachlich unbedenklich durchgehen. Wenn wir heute Neger durch Südsee ersetzen, ersetzen wir zwar ein unterdessen sprachlich bedenklich gewordenes Wort; weil aber an der Story als solcher nichts geändert wird, ist bei Lichte betrachtet das Resultat nur, dass wir den tatsächlich vorhandenen Rassismus Astrid Lindgrens zu vertuschen suchen. Er ist immer noch da – nur wird ihn der durchschnittliche Leser (und offenbar auch der durchschnittliche Verlagslektor!) nicht mehr bemerken. Das halte ich für – auch pädagogisch – bedenklicher als die ursprüngliche Formulierung, die ihn ja mittlerweile offen gelegt hat. Auch in diesem Beispiel verrät die ‘political correctness’ ihre Ziele. Statt dafür zu sorgen, dass rassistische Vorurteile bloßgelegt werden, so dass sich die privilegierten Weißen ihrer Privilegien bewusst werden und bewusst an einer besseren Verteilung der Ressourcen gearbeitet werden kann, versteckt diese so gut gemeinte Korrektur den Rassismus hinter einer nur auf den ersten Blick harmlosen Formulierung. Im Fall von Astrid Lindgren spielt sicher eine Rolle, dass einmal mehr die alte Morgenstern-Korff’sche Aussage gilt, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf. Es darf ganz einfach nicht sein, dass eine Frau, deren Bücher im Laufe der Jahrzehnte von Millionen verschlungen wurden und die diese Menschen bis heute heiß lieben – dass so eine Frau auf dem Grund ihrer Seele ein so schwarzes Loch hat.

Allgemein behaupte ich, dass diese Art von oberflächlichen Eingriffen in Werke mehr oder weniger großer Kunst die Geschichte, und was wir daraus lernen könnten, verfälschen. Man glaubt, gehandelt zu haben und hat in Tat und Wahrheit die schmerzvolle Wahrheit versteckt, an Hand derer wir auch heute noch existierende Vorurteile und Benachteiligungen besser erkennen und behandeln könnten. Es sind hilflose und politisch kontraproduktive Versuche. Kastrierte oder schamvoll versteckte Kunstwerke können eine genuine Funktion der Kunst, die der Provokation, nicht mehr erfüllen. Provozieren aber sollten uns vor allem solche Werke noch heute. (Sie tun es ja; aber da der Mensch ungern aus seiner Komfortzone heraus kommt, werden sie unter einem Vorwand fast buchstäblich unter den Tisch gewischt. Einem Vorwand, der einem noch dazu das Gefühl vermittelt, ein wirklich guter Mensch zu sein – was will man mehr?)

Nun kann man mir sagen: «Weder interessiert in Bezug auf solche Wörter deine Meinung als weißer alter und damit in jeder Hinsicht privilegierter Mann, noch ist sie von Relevanz. Wichtig ist nur die Meinung der direkt Betroffenen; deren Gefühle gilt es zu berücksichtigen.» Auf den ersten Blick hat dieses Argument einiges für sich, das gebe ich zu. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es nur zu einem (literarischen) Solipsismus führen kann. Wenn ich als alter weißer Leser mich nur äußern kann, wenn ich betroffen bin – wie sieht es dann mit mir als altem weißen Autor aus? Darf ich zum Beispiel in meinem Roman einen jungen Nicht-Weißen in einer Haupt- oder Nebenrolle einführen? Wird man mir nicht sagen, dass ich als alter Weißer mich gar nicht in die Welt und das Denken eines jungen Nicht-Weißen einfühlen und ihn damit gar nicht korrekt darstellen kann? Wir stehen diesbezüglich heute vor der Situation, dass ans Schreiben völlig widersprüchliche Anforderungen gestellt werden. Einerseits besteht, auch und gerade in der Unterhaltungsliteratur, die Forderung, dass die Helden und Heldinnen einer Queste möglichst auch andere Hautfarben, Geschlechter, körperliche und psychische Befindlichkeiten / Ausstattungen aufweisen, als der durchschnittliche weiße Mann. Oder auch der überdurchschnittliche weiße Superman. Es besteht aber gleichzeitig die Tendenz, weißen Männern vorzuwerfen, dass sie Nicht-Weiße gar nicht darstellen könnten. Ja, man ist – zumindest in den USA – heute so weit, dass ein schwuler schwarzer Autor einem Weißen vorwirft, keine schwulen Schwarzen darstellen zu können, weil er eben keiner ist. Dieses – ich nenne es mal – ‘Betroffenheitsargument’ hat sich bereits gegen den schwulen Schwarzen selber gewendet: Er muss nun hören, dass er keine Ahnung vom Leben und den Gefühlen einer transsexuellen Person hat, die in einem seiner Romane vorkommt. (Die Geschichte hat sich mutatis mutandis tatsächlich so ereignet!) Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet das, dass es nur eine Person gibt, über die ich schreiben kann, weil ich über deren Leben und Gefühle einigermaßen Bescheid weiß – das bin ich selber. (Freud wäre da anderer Meinung; aber Freud und die ganze Psychoanalyse würden natürlich der solipsistischen Schere ebenso zum Opfer fallen, wie jede Psychologie, vielleicht mit Ausnahme des kruden Behaviorismus im Stile Watsons. Der verficht einen Ansatz von Psychologie, in der ein Lebewesen im Grunde genommen nur eine Black Box ist, deren Inneres sich nicht erforschen lässt. Was sich einzig beobachten lässt, sind Input, folgender Output und eventuelle Gesetzmäßigkeiten in der Abfolge. Dieser Forschungsansatz hat sich ‘in the long run’ als recht steril erwiesen. Dies nur nebenbei.)

Konsequent zu Ende gedacht ist beim solipsistischen Ansatz die einzig noch mögliche Form von Literatur demnach die Autobiografie. Nun hat zwar schon der alte Goethe gesagt, dass in jedem literarischen Werk immer auch Autobiografisches steckt. Aber eben: auch! Die wenigsten Menschen leben so, dass eine Biografie – geschweige denn eine Autobiografie – wirklich interessant ist. Abgesehen davon: Wie viele verkappte autobiografische Romane gibt es nicht sowieso schon? Das Setting mag ändern, aber an der Basis geht es immer um das gleiche: Es sind allesamt Romane, die sich dadurch auszeichnen, dass welche ihre spätpubertären Probleme mit Vater und/oder Mutter vor Publikum breitwalzen. (Hier kommt mir schon wieder der Alte aus Weimar in den Sinn, diesmal mit dem wohl bekanntesten Satz aus seinem West-östlichen Divan: Getretner Quark // Wird breit, nicht stark.) Wen interessieren solche Problemchen, außer etwa Literaturkritiker und -kritikerinnen, die ihr Leben damit verdienen, genau diese Bücher interessant finden zu müssen? Ganz abgesehen davon, dass selbst KritikerInnen, wenn wir das solipsistische Kunstverständnis der ‘political correctness’ zu Ende denken, über die Autobiografie anderer gar nicht adäquat urteilen können – non sua res agitur.

Ich bin weit abgekommen von der Skulptur auf dem Bieler Bahnhofplatz. Ich vermute, dass es nicht Thomas Hirschhorns Ziel war, damit einen «Rant» zum provokativen Aspekt der Kunst bzw. dem diesem entgegengesetzten quietistisch-solipsistischen Wesen der ‘political correctness’ zu evozieren. Aber auch das gehört zur künstlerischen Provokation: Es lässt sich nicht vorhersagen, welche Reaktion sie hervorrufen wird. (Insofern erfüllt die Bieler Skulptur zumindest eine der möglichen Anforderungen an Kunst: Sie provoziert. Und weggeräumt wird sie sowieso wieder. Die Frage im Titel müsste also mit «sowohl – als auch» beantwortet werden.)

Ach ja: Natürlich sind Robert Walsers Romane provokativ. (Provokativer als die Bieler Installation!) Es lohnt sich nur schon deswegen, sie zu lesen.

Ich sollte meinem eigenen Ratschlag wieder einmal folgen…

2 Replies to “Ist das Kunst oder kann das weg?”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert