Jean-Pierre Rochat: Chaque jour une histoire / Jeden Tag eine Geschichte

Einige hier mögen sich vielleicht noch daran erinnern, dass ich vor nun bald zwei Jahren auf dem Bahnhofplatz in Biel über eine Kunstinstallation im beinahe wahrsten Sinn des Wortes gestolpert bin. Sie stammte vom Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn und sollte an den Außenseiter unter den Schweizer Autoren, Robert Walser, erinnern. Wie viele von Hirschhorns Installationen war auch diese nur temporär – im Herbst muss sie verschwunden sein. Ich habe allerdings, offen gesagt, ihr Schicksal nicht mehr weiter verfolgt. (Schon im August 2019 war sie ja für mich im Grunde genommen vor allem der Ausgangspunkt zu einer weiterführenden, eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Kunst und political correctness‘.) Nun hat diese Installation mich aber, wenigstens indirekt, noch einmal eingeholt.

Teil jener Kunstinstallation war nämlich auch der Westschweizer Schriftsteller Jean-Pierre Rochat. Jeden Tag – so lange die Installation bestand, und das waren immerhin 80 Tage – las er dort einen eigenen, täglich extra für diese Gelegenheit geschriebenen neuen Text vor. Ich habe ihn in meinem Aperçu vom August 2019 nicht erwähnt, hatte ihn aber tatsächlich kurz gehört – leider vom Wind und dem Verkehrsrauschen so ziemlich verweht. Außerdem las er in seiner Muttersprache Französisch, einer Sprache, die – selbst wenn von einem Romand gesprochen, deren Französisch in den Ohren von Parisern und Pariserinnen wie (bäuerliches!) Singsang klingt – die also einigermaßen monoton klingt und der zu folgen bei solchen Störgeräuschen schwierig genug war. (Im Übrigen, offen gesagt, hatte ich es eilig, meinen Zug zu erwischen.)

Diese Texte liegen nun gesammelt vor. Nicht ganz 150 Seiten sind es, in einem neckisch gebundenen Buch, das kein Vorne und kein Hinten kennt, weil es die Texte auf Französisch und auf Deutsch bringt (wie es sich für eine zweisprachige Stadt und einen Verlag in einer zweisprachigen Stadt gehört 🙂 ), und zwar so angeordnet, dass die französischen Texte alle am einen Ende stehen. Am andern Ende – quasi auf dem Kopf stehend – dann die deutschen Übersetzungen. Wenn man das Buch aber um 180° dreht, steht der französische Teil Kopf. Auf dem Buchrücken ist selbst das Verlagslogo oben und unten eingefügt; man kann das Buch also ins Regal stellen, wie man will.

Die Texte – ich habe nicht nachgezählt, ob es wirklich 80 sind, aber es sind viele, alle mit einem Datum versehen – die Texte selber also sind relativ kurz und im Prinzip von einander unabhängig. Ich sage „im Prinzip“, weil natürlich die Situation der Lesung – vor dem Bahnhof, in oder auf einem Kunstwerk, einem Kunstwerk, das dem Schriftsteller-Kollegen Robert Walser gewidmet ist – die Situation der Lesung also gab natürlich einige Ansätze vor, die dann auch immer wiederkehren. So finden wir viele Walser-Zitate als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen Rochats – zu Walser im Allgemeinen, zum Leben und der Lebenssituation Walsers im Besonderen; zu SchriftstellerInnen im Allgemeinen, zum Leben und der Lebenssituation von SchriftstellerInnen im Besonderen; zum Schriftsteller Rochat im Allgemeinen und im Besonderen. Flüchtige Aperçus einer flüchtigen Poetik, rein poetische Momente, Reflexionen über bzw. Erinnerungen an Rochats Leben als Bauer (denn er war Landwirt, bevor er zum hauptamtlichen Schriftsteller wurde). Von der Entstehung her erinnert vieles an die écriture automatique der französischen Surrealisten – ohne allerdings direkt surrealistisch zu sein. Dass neben Walser dann der Romand Charles Ferdinand Ramuz oder der Künstler Jean Tinguely Erwähnung finden, zeigt aber, dass sich Rochat seiner zumindest technischen Nähe zum Surrealismus bewusst ist – sie aber nicht offen darlegt. Und wenn man seine Texte auf Französisch liest, wird man zusätzlich feststellen können, dass er – wie Ramuz im französischen Sprachraum oder wie (der ebenfalls erwähnte!) Pedro Lenz im deutschen Sprachraum – mit und in der Umgangssprache seiner Herkunft arbeitet. Was ihn wiederum mit dem Ausgangspunkt seiner Überlegungen verbindet, mit Robert Walser, dessen Sprache man die Schweizer Herkunft ebenfalls anmerkt. Für alle hier genannten Autoren aber ist es so, dass sie überregionale Geltung haben.

Alles in allem finden wir abwechslungsreiche Texte und einen unprätentiösen Autor. Durchaus lesenswert, auch wenn man die Walser-Installation nicht gesehen haben sollte. (Es finden sich sogar ein paar Fotografien dieses Baumhauses – wie ich es 2019 genannt habe – auf den jeweils vordersten Seiten.)


Jean-Pierre Rochat: Chaque jour une histoire / Jeden Tag eine Geschichte. Aus dem Französischen von Yves Raeber. Biel / Bienne: Verlag die Brotsuppe, 2021.

Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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