Das liegt zum einen an der fachlichen Kompetenz der Autorin, ihrer Kenntnis der athenischen Demokratie, der politischen Umstände nach dem peloponnesischen Krieg. Denn diese Vorgeschichte ist mit dem Prozess des Sokrates untrennbar verbunden, die Kämpfe zwischen der demokratischen und der oligarchischen Fraktion bzw. mit der kurz vor dem Prozess erfolgten endgültigen Niederlage gegen die Spartaner. Ohne eine Analyse des für unsere Augen etwas seltsamen Rechtssystemes (aber immerhin gab es ein solches – bei allen Mängeln) bleibt nur der Tod eines Gerechten für seine Prinzipien, die Hintergründe hingegen machen den Vorgang zumindest verständlicher, wenn sie ihn auch nicht zu entschuldigen vermögen.
Mossé bedient sich jener Quellen, die für den Prozess als auch das Leben des Sokrates (in mitunter widersprüchlicher Weise) von Bedeutung sind: Die Platonischen Dialoge und die Ausführungen des Xenophon. Grosso modo folgt sie hier den überkommenen Interpretationen, die dem platonischen Sokrates ein mehr an Authentizität zuzusprechen geneigt sind, während die xenophontische Darstellung als ein wenig zu bieder und naiv angesehen wird. Allerdings ist sie um eine Nuancierung dieser Bewertungen bemüht (gerade der platonische Sokrates muss ja häufig als ein Sprachrohr der platonische Philosophie herhalten – insbesondere in den späteren Dialogen) und so müssen beide Quellen mit entsprechender Vorsicht gehandhabt werden (ebenso die aristophanische Aufbereitung des Sokrates in den „Wolken“, die aber gerade für den Prozess von Bedeutung ist: Weil sie ein Bild des Sokrates transportiert, wie es wenigstens teilweise auch von den 500 Geschworenen gesehen worden sein dürfte).
Der Ausgang ist bekannt: Nach der Verurteilung darf sich der Angeklagte noch einmal zu den Vorwürfen äußern – und er erzürnt durch seine Uneinsichtigkeit (Aufrichtigkeit?) seine Richter, weshalb das Strafmaß schließlich auf Tod lautet. Tatsächlich sind ähnliche Urteile häufig nicht vollzogen worden, man rechnete damit, dass der Delinquent sich durch Flucht entzieht, was Sokrates mit den bekannten Argumenten aus der Apologie von sich weist. Erst durch diesen Tod wird die Figur des Sokrates zu dem die Geschichte überdauernden Mythos, er wird zum Märtyrer für die gerechte Sache und von den unterschiedlichsten Gruppen vereinnahmt – als Kämpfer gegen Staats- und Justizwillkür oder als Vorläufer eines rund 430 Jahre später zum Tode verurteilten Jesus von Nazareth (er hätte sich wohl gegen beide Auslegungen verwahrt). – Eine gelungene und gediegene Aufbereitung des wohl bekanntesten Todesurteils der Geschichte.
Claude Mossé: Der Prozeß des Sokrates. Hintermänner, Motive, Auswirkungen. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1999.
Der Tod des Sokrates in seine Worten:
„Euch, meinen Freunden, will ich sagen, dass mir all das etwas Gutes zu bedeuten scheint. Sonst hätte mich jenes göttliche Zeichen gewarnt. Ich hab‘ es aber weder heute morgens, als ich aus dem Hause gieng. ver- nommen, noch als ich hier zum Gerichtshof heraufstieg. noch in der Rede irgendwo, wenn ich etwas sagen wollte, obwohl es mich sonst schon oft mitten im Sprechen hemmte. Dies scheint mir ein großer Beweis dafür zu sein, dass der Tod kein Uebel ist. Denn entweder ist er nichts als ein tiefer, traumloser Schlaf: dann ist er gewiss besser, als alle andern Tage und Nächte, da doch selbst der Perserkönig eine traumlose Nacht allen andern Genüssen vorziehen würde. Oder der Tod ist ein Aus- wandern von hinnen an einen andern Ort. wo sich alle Verstorbenen befinden, wo ich die wahren Richter Minos, Rhadamanthvs. Aiakos, Triptolemos finden werde, wo ich mit Orpheus, Musaios. Hesiodos und Homeros umgehen kann, und mit Palamedes. Aias. Agamemnon. Odysseus. Sisyphos. wo ich fortfahren kann zu forschen und zu untersuchen, wer weise, wer es nicht ist. Jedenfalls tmlten sie einen dort deshalb nicht.
So habt auch ihr gute Hoffnung auf den Tod und beherziget, dass es für einen guten Mann kein Uebel gibt, weder im Leben noch im Tode, und dass von den Göttern seine Sachen nicht vernachlässigt werden. Ich bin darum auch nicht aufgebracht über meine Richter, obwohl sie mich verurtheilt haben in der fälschlichen Meinung, mir zu schaden. Mögen sie sich für meine Thaten an meinen Söhnen rächen und diese ebenso plagen wie ich sie, und ihnen Vorwürfe machen, wenn sie sich um anderes mehr als um Tugend kümmern. Dann wird mir und meinen Söhnen Gerechtes wider- fahren sein. Aber es ist schon Zeit, von hier fortzugehen : für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer aber von uns einem bessern Schicksal entgegengeht, das ist jedem verborgen, außer Gott.“
Als seine Freunde beim Abschied weinten, sagte er: „Warum weint ihr jetzt erst? Wisst ihr nicht längst, dass ich seit meiner Geburt von der Natur zum Tode verurtheilt war?“ Apollodoros ließ sich zur Aeußerung hinreißen: .Das schmerzlichste ist mir. dass ich dich. Sokrates, muss unschuldig sterben sehen.“ Sokrates ent- gegnete, ihn streichelnd: „Liebster, so möchtest du mich lieber schuldig sehen?“ Als er den Anytos triumphierend vorbeigehen sah, bemerkte er: „Dieser hält sich nun für den Sieger und weiß nicht, dass darüber erst die Nachwelt entscheiden wird“ (Xen. Apol.)
Sokrates, nach den Überlieferungen seiner Schule. von Kralik, Richard. Wien 1899.