Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher

Oder – so der Untertitel – Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet.

Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen.

Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung.


Ein Buch wie ein Wimmelbild. In der schieren Menge der Protagonisten verschwindet die Hauptfigur, Jakob Frank, immer mal wieder aus dem Gesichtsfeld von Leser und Erzählerin. Das liegt auch daran, dass die Erzählperspektiven wimmeln, immer wieder wechseln. Neben einer in der dritten Person berichtenden Erzählerin werden Briefwechsel präsentiert, Niederschriften der Ereignisse verfasst von einem Jünger Franks – ja, es wird sogar mit Jenta eine Person eingeführt, die in der Lage ist, das Geschehen sozusagen aus der Vogelperspektive wahrzunehmen und somit für den Leser zu relativieren. (Diese Jenta ist die Großmutter Franks. Mit ihrer Verwandtschaft angereist, um an einer Hochzeit teilzunehmen, wird die Hochbetagte vor Ort auf den Tod krank. Da ein Todesfall in der Familie bedeuten würde, die Hochzeit verschieben zu müssen, legt ihr der zauberkundige Vater der Braut ein Amulett um, das den Tod für die Dauer der Festlichkeiten fernhalten soll. Doch Jenta weiß, wozu das Amulett dient, und verschluckt das Papier mit dem Zauberspruch. Nunmehr befindet sie sich für immer in einer Art Stasis zwischen Leben und Tod: in der Lage, ihren Körper, der nicht zerfällt, zu verlassen und umher zu schweifen, aber immer wieder dahin zurückkehrend, die Toten ebenso sehend wie die Lebendigen. Das klingt, so dargestellt, sehr kitschig, ist aber von der Autorin gut gemacht.) Selbst die Erzählzeit wimmelt, weil sich Tokarczuk und ihre Erzähler und Erzählerinnen keineswegs immer an die chronologische Reihenfolge der Ereignisse halten. Da wird auch schon mal vor- bzw. zurückgegriffen, vom Tod einer Person erzählt, die im nächsten Kapitel noch lebt und Ähnliches. An Religionen wimmelt es ebenfalls: Josef Frank, der sich als jüdischer Messias fühlt und ausgibt, rebelliert gegen das Judentum, konvertiert zum Islam und später zum römisch-katholischen Glauben. Auch geografisch legen wir mit den Protagonisten große Strecken zurück. Ausgangspunkt des Romans ist die polnisch-litauische Adelsrepublik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren spätere Aufteilung wir noch mit den Protagonisten erleben werden. Wir werden uns auch im Osmanischen Reich aufhalten und in Österreich. Dort wird nicht nur Franks Tochter Eva die Geliebte Josephs II., seines Zeichens Mitregent seiner Mutter Maria Theresia, sondern dort begegnet Frank auch der westjüdischen Form der Emanzipation in der Figur eines Neffen, Moses Dobruški alias Franz Thomas von Schönfeld alias Junius Frey (auch er, wie alle in diesem Roman, eine historische Figur), der von der Gleichberechtigung der Religionen in der Freimaurerei schwärmt und dessen Verehrung dem Berliner Juden Moses Mendelssohn gilt. Die Schattenseite der europäischen Aufklärung vertritt – in einem gewissen Sinn – Casanova, den Eva in einem Wiener Theater kennen lernt. Der Leser erfährt nicht, ob er sie oder sie ihn oder überhaupt verführen wird – aber er wird ihr noch nach Offenbach Briefe schreiben. (An mir bekannten Figuren wird ansonsten nur noch Sophie von la Roche auftreten, die Frank und seine Sabbatianer auf der letzten Station ihrer Reise durch Zeiten und Welten protegiert, auf der sie ein kleines weltliches Reich in der Nähe von Offenbach gegründet hatten, wo Jakob Frank als Baron von Offenbach firmierte.)

Der Untertitel stellt im Grunde genommen schon eine Zusammenfassung des Romans dar. Es geht um das Leben des polnischen Juden Jakob Frank, der, sich in die lange Reihe der (ost-)jüdischen Messiasse einreihend, versuchte, seine Glaubensgenossen vom Joch des Talmud einerseits, vom Joch einer antisemitisch eingestellten (polnischen) Nation bzw. Regierung andererseits, zu befreien. Wer mehr über Jakob Joseph Frank, Herb Dobrucki (hebräisch יַעֲקֹב יוֹסֵף בן יְהוּדָה לייב Ja’akow Josef ben Jehuda Lejb, polnisch Jakób Józef Frank), erfahren, aber dieses Buch nicht lesen möchte, sei im Übrigen an Wikipedia verwiesen – ich kann hier dieses Wimmelbuch nicht aufdröseln. Es entzieht sich im Grunde genommen jeder Nacherzählung ebenso, wie jeder literarischen Einordnung. Indem Olga Tokarczuk den historischen Ereignissen folgt, präsentiert sie uns einen real gewordenen Picaro, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, mehr Getriebener ist als Treibender (der er aber gerne sein möchte). Wir erleben die Protagonisten ebenso in den schmutzigen und stinkenden Slums der polnischen Städte (in denen es im Grunde genommen keine Rolle mehr spielte, ob der Bewohner solch eines Lochs Jude war, Muslim, römisch-katholischer oder orthodoxer Christ), wie sich sonnend im Glanz des osmanischen Hofstaats oder des Wiener Hofs unter Maria Theresia und Joseph II.

Biografie ebenso wie historischer Roman oder Schelmenroman – ein Buch voll prallen Lebens, wie der Rezensent in seiner rezensorischen Verzweiflung zu schreiben gezwungen ist. Es entzieht sich durch die schiere Fülle an Ereignissen und Informationen jeder Eingliederung. Ich weiß nicht, ob Olga Tokarczuk die Josephs-Tetralogie Thomas Manns kennt oder Günter Grass‘ Blechtrommel. Aber als Erzählerin beweist sie sich hier als deren Schwester im Geiste und im Können. Da verzeihe ich ihr auch die drei Marotten, die sie in diesem Buch ausspielt: Zum ersten den seltsamen Untertitel. Ich kenne die polnische Literatur leider gar nicht und kann deshalb nicht beurteilen, ob diese Form eines barocken Untertitels im 18. Jahrhundert dort noch gang und gäbe war. In der deutschen ist sie eben barock und war eigentlich schon nicht mehr im Gebrauch. Ich verzeihe ihr auch die Illustrationen, die dem Text beigefügt sind – Gemälde, Stahl- und Kupferstiche der Zeit, Personen, Städte oder Länder präsentierend, die Frank und die Sabbatianer kennen gelernt haben. Leider ohne Legende und in handelsüblicher Buchdruckqualität und im Verhältnis zum Original stark verkleinert, was macht, dass, was nicht Stich ist, sondern gemalt, sich als schwarz-graue Flecken präsentiert, in denen kaum etwas erkennbar ist. Ich verzeihe ihr auch die Marotte, die Seiten des Buchs von hinten nach vorne zu zählen. (Dazu die Autorin in ihrer Bibliographischen Notiz: Die »andere« Seitennummerierung ist eine Verbeugung vor den hebräischen Büchern, zugleich möchte sie daran erinnern, dass jede Ordnung eine Frage der Gewohnheit ist. Da wird Tokarczuk, was sie sonst das ganze Buch hindurch nirgends ist: moralisch belehrend.) Immerhin spielen in diesem Roman Bücher eine große Rolle, und damit trifft Olga Tokarczuk einen Schwachpunkt bei mir.


Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Zürich: Kampa, 2019.

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