Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt.

Der Untertitel suggeriert Aktualität: Tatsächlich aber fühlt man sich bei der Lektüre dieser Aufsätze an Geiers Buch über das philosophische Lachen erinnert (insbesondere bei den Kapiteln über Locke und Shaftesbury), was zwar weiter nicht schlimm sein muss, aber im Falle von Shaftesbury (ein bedeutender Aufklärer?) ein bisschen seltsam anmutet. Auch bei den anderen Aufsätzen gibt es Überschneidungen und Wiederholungen: Manchmal finden sich in den verschiedenen Kapiteln fast wortgleiche Absätze, mehrfach wird auf die Bedeutung des immer gleichen philosophischen Werkes hingewiesen. Wahrscheinlich resultiert diese Sammlung aus einer Kompilation von bereits geschriebenen Aufsätzen, die für dieses Buch passend gemacht wurden: Und nicht immer scheint das gelungen.

In insgesamt sieben größeren Abschnitten wird dabei die Bedeutung der Aufklärung für unsere Zeit (bzw. das “europäische Projekt”) untersucht. Locke bietet dabei den Einstieg, Shaftesbury (ein Schüler Lockes) passt nicht wirklich in diese Liste; hier hätte man sich Ausführlicheres über David Hume gewünscht, der es gerade mal auf vier Erwähnungen im ganzen Buch bringt. Auch das nachfolgende Kapitel über die “bösen Philosophen” (in Anlehnung an Bloms Werk über die französischen Aufklärer) wirkt recht lieblos, nicht viel mehr als eine Aufzählung der Köpfe der französischen Aufklärung und eine kurze Charakteristik ihrer Hauptwerke.

Entschädigt wird man mit einem gelungenden Kapitel über Moses Mendelssohn, der ansonsten in solchen Büchern oft zu kurz kommt. Mendelssohns Kampf mit und gegen seinen Glauben, sein Versuch, in theologischen Dingen größtmögliche Toleranz walten zu lassen (was den bigotten Lavater aufbrachte, der ihn immer wieder dazu nötigen wollte, doch zum Christentum zu konvertieren, eine Aufforderung, der er sich geschickt zu entziehen vermochte, aber ein Hinweis auf seinen prekären Status als Jude war) wird sehr eindrücklich geschildert, auch die Zusammenkünfte im Salon von Marcus Herz (einem Kantianer), die in diversen periodischen Schriften ihren Ausdruck fanden. In diesen Monatsheften finden sich denn auch die beiden bekanntesten Antworten auf die Frage, was denn Aufklärung sei: Jene von Mendelssohn und die berühmte Kants.

Diesem ist der dann folgende Abschnitt gewidmet (mit den erwähnten Überschneidungen), anschließend kommt (aus Gründen der Quote?) Olympe de Gouges zu Ehren. Ihr Leben ist ein wunderbares Beispiel für die Rechtlosigkeit einer Gruppe, die auch in den französischen Salons bestenfalls Anmut und ein wenig Esprit einbringen durften, aber nicht als wirklich gleichwertige Menschen angesehen wurden. De Gouges’ Verdienst ist es auch, auf die grauenhafte Lage der französischen Sklaven in Übersee aufmerksam gemacht zu haben, ebenfalls Menschen, die bei allem Rufen nach Gleichheit und Freiheit ignoriert wurden. Ihr Theaterstück, das die Lage der Schwarzen zum Thema hatte (und in dem ein Sklave aus moralisch überzeugenden Gründen einen Weißen tötet), konnte nur nach langem Kampf aufgeführt werden und wurde nach nur drei Aufführungen abgesetzt. So viel Brüderlichkeit wollte man im revolutionären Frankreich nicht sehen.

Das letzte Kapitel ist eine ausgezeichnete Lebens- und Werkbeschreibung Wilhelm von Humboldts. Auch er kam aus den aufklärerischen Kreisen in Berlin (aber eine Generation jünger) und seine – wenn auch nur kurze Arbeit – im Dienste einer aufgeklärten Pädagogik ist – vor allem Deutschland – noch heute relevant. Und – wie Geier zu Recht bemerkt – auch aktuell: Humboldt wandte sich schon vor 200 Jahren gegen eine rein pragmatische, an ökonomischen Gesichtspunkten orientierte Bildung, die zwar möglicherweise tüchtige Geschäftsleute, aber keine aufgeklärten Bürger zur Folge hat. Humboldt orientiert sich dabei an Kant: Um den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden, bedarf es gewisser Freiräume, Freiheiten, die dem Denken an sich Zeit und Raum geben und die aus dem Menschen (vielleicht) jemanden machen, der sich ohne Leitung eines anderes seines Verstandes zu bedienen vermag. Autoritätsglauben und Heteronomie wird das Horazschen “sapere aude” entgegengesetzt (wozu es nicht nur eines Kopfes, sondern auch des Mutes bedarf) – und all diese Zeilen sind heute von derselben Bedeutung wie damals (es gibt nicht viele solche Absätze aus philosophischen Werken, die die Zeit so unbeschadet überstanden haben). Zu wissen gilt es heute anderes, der Sinn des Wissens aber ist gleich geblieben: Nur auf dieser Basis ist überhaupt erst Kritik möglich, wer nichts weiß oder gar nichts wissen will, kann seiner aufgeklärten Menschenpflicht nicht nachkommen.

Dem Buch spürt man seine Entstehungsgeschichte an: Die einzelnen Teile wollen sich nicht wirklich zueinander fügen, Geier schöpft zu stark aus dem Fundus schon zuvor veröffentlichter Artikel, Bücher. Aber die Abschnitte über Mendelssohn, Kant und Humboldt sind ausgezeichnet und auch das Porträt von Olympe de Gouges ist mehr als gelungen. Hingegen fehlt Hume schmerzlich (und ein Buch über die Aufklärung ohne le bon David ist unvollständig), die Franzosen werden allzu kursorisch behandelt: Aber eine umfassende Darstellung war wohl nicht intendiert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Geier sich mehr Mühe hätte geben können (und sollen), er wollte wohl das “europäische Projekt” der Aufklärung” allzu schnell unterstützen (und dieses Projekt hat dies mehr als notwendig) – auf Kosten einiger Mängel. Trotzdem lesenswert.


Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Frankfurt a. M.: Rowohlt 2012.

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