Friedrich Hölderlin: Hyperion

„Diotima!“, ist wohl der erste Gedanke, der dem deutschen Bildungsbürger durch den Kopf blitzt, wenn er von Hölderlins Hyperion hört. Der zweite dann, natürlich, Susette Gontard, das Modell der Diotima, Hölderlins ‚echte, reale Diotima‘. Der dritte schließlich, Hölderlins Schuldgefühle, weil er Diotima im Hyperion sterben ließ, gegen Susettes Einwände, und der nun erleben musste, wie die ‚reale Diotima‘ denselben Tod starb wie die fiktive, was am Ende zu Hölderlins geistiger Zerrüttung führte. Mehr – so der letzte Gedanke des deutschen Bildungsbürgers hiezu – braucht man über den Roman Hyperion auch nicht wissen.

Persönlich hege ich so meine Zweifel an obiger monokausaler Kette, denn es ist ja normalerweise so, dass unsere Gedanken und Gefühle nie eindeutige Kausalverhältnisse aufweisen. Die Figur Diotimas ist sicher (auch) nach Susette Gontard gebildet. Aber der Umkehrschluss, dass Susette für Hölderlin auch „Diotima“ war, ist meines Erachtens nicht gültig. Ich kann mich an keinen Brief Hölderlins an seine Geliebte erinnern, in dem er sie als „Diotima“ anredet. (Zugegeben: Ich habe sie nicht alle auswendig im Kopf.) Hölderlin war bei der Abfassung des Romans geistig gesund, und konnte doch sehr wohl eine von ihm erfundene und nur auf dem Papier existierende Figur unterscheiden von der echten Geliebten. Wenn man liest, wie vorsichtig und schlau die beiden Liebenden ihren Umgang zu verstecken suchten, so ist man weit vom schwärmerisch-keuschen Umgang entfernt, den die Figuren Diotima und Hyperion im Roman miteinander pflegen. Dass Susettes Tod den abwesenden Hölderlin tief getroffen hat, ist verständlich – schließlich war sie zu jener Zeit (und wiederum anders als bei seiner Figur Hyperion, der noch Alabanda hatte) praktisch die einzige Person, die noch an ihn und seine dichterischen Fähigkeiten glaubte. Auch geht in obigem Konstrukt nur zu gern vergessen, dass Hölderlin einige seiner bekanntesten Hymnen erst nach Susettes Tod dichtete oder zumindest vollendete – ohne dass sich darin irgendwelche Zeichen geistiger Verwirrung auffinden ließen.

Nein, hinter dem Roman Hyperion steckt mehr als ein Schlüsselroman um Hölderlins große Liebe. Es ist der letzte große Briefroman der Empfindsamkeit – ein bewusster Versuch Hölderlins, Samuel Richardson und natürlich Goethes Werther auszustechen. Ähnlich wie bei den Leiden des jungen Werthers finden wir auch im Hyperion fast nur Briefe der Titelfigur an seinen besten Freund, hier Hyperions an Bellarmin. Eine Ausnahme ist ein kurzer Briefwechsel zwischen Diotima und Hyperion, den dieser seinem Freund Bellarmin weiter gibt. Doch, wo wir im Werther bei aller Empfindsamkeit Menschen aus Fleisch und Blut vor uns haben (was er seinem andern Elternteil, dem Sturm und Drang, verdankt), so agieren im Hyperion leider einigermaßen blutleere Schemen. Es sind typisierte Gestalten, die auftreten. Da ist der weise Lehrer Adamas, in dessen Name sowohl der erste Mensch steckt wie der antike griechische Bildhauer. Denn ähnlich wie ein Bildhauer den Marmor, so behaut Adamas den jungen Hyperion, indem er ihn, den Griechen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, an seine Vorfahren, an die klassische Antike, heranführt. Nachdem er dies erledigt hat, verschwindet der weise Lehrer aus Hyperions weiterem Leben.

In diesem Leben sind dann vor allem noch zwei Menschen wichtig. Alabanda, der Tatmensch, der sich in seinen Taten aber immer wieder vertut, und eben Diotima, die beinahe pflanzenhaft ihrem Geburtsort verhaftete Naive, aber in sich Ruhende. Wenn Alabanda durch seinen Tatendrang Kraft ausstrahlt, so Diotima durch ihre Ruhe. Zwischen diesen beiden Polen pendelt Hyperion. Wobei das Wort „pendeln“ eigentlich eine viel zu ruhige Bewegung suggeriert: Hyperion schleudert auf einer exzentrischen Bahn wie nur irgendein Planet durch die Welt zwischen seinen beiden Brennpunkten. Erst, als beide tot sind – und beider Tod ist eine dramaturgische Notwendigkeit, die Hölderlin nicht zu bereuen hatte – erst, als beide tot sind also, und Hyperion die unumgängliche Phase heftigster Trauer durchgemacht hat, kommt dieser Planet zur Ruhe. Er bäumt sich einmal fast am Ende des Romans noch einmal kurz auf in seiner berühmten Schimpftirade auf die Deutschen, denen er Barbarei vorwirft, sklavische Unterwerfung unter ein beliebiges ihnen gegebenes Gesetz, sowie mangelndes Verständnis für die Natur, die Natur des großen Menschen sowieso. Dann aber beruhigt ihn eine Vision der Diotima, und er kommt einem neuen Verständnis der Natur, nämlich, dass diese etwas Harmonisches sei. In dieser von ihm entdeckten Natur geschieht nichts, das dem großen Ganzen abträglich wäre, und so ergibt für ihn sowohl das ursprüngliche Aufflackern seiner beiden Brennpunkte Alabanda und Diotima, wie deren Verlöschen nun einen Sinn.*) Dass er sich mit dieser Resignation genau so sklavisch einem äußeren Gesetz unterwirft, wie er es den Deutschen vorwirft, scheint er nicht zu merken.

Zum Schluss noch ein paar Worte zur Sprache Hölderlins. Es ist ein Gemeinplatz, in diesem Falle aber stimmt er: Hölderlin schreibt auch seinen Roman als Lyriker. Das passt zur empfindsamen Grundstimmung, wirkt bei der Schilderung der Seeschlacht im griechischen Freiheitskampf allerdings etwas seltsam. Doch diese Szene ist rasch vorbei. Und ansonsten ist es purer Genuss, eine solche Sprache zu lesen, und ich behaupte, dass zumindest von der Sprache her der Hyperion den Werther übertrifft. (Auch hier sei ein Caveat angefügt: Hölderlin verfasste seine literarischen Werke in einem lyrisch-hymnischen Stil. Das heißt nicht, dass er in seinem ‚Privatleben‘ der gleiche Schwärmer gewesen ist wie seine Romanfiguren. Oder dass gewisse Modelle seiner Figuren solche Schwärmer gewesen wären…)



*) Was Hölderlin schon im Motto des zweiten Bands (das aus Ödipus auf Kolonos von Sophokles stammt) ganz klar ausspricht: Nicht geboren zu werden, ist das Beste; wenn man aber das Licht der Welt schon erblickt hat, diese so schnell wie möglich wieder zu verlassen, das Zweitbeste. [Meine Übersetzung.] Sowohl Alabanda wie Diotima mussten sich, da sie das Beste verpasst hatten, wohl oder übel fürs Zweitbeste entscheiden. Hyperion aber ist dazu verdammt, weiterhin bleiben zu müssen, wenn auch in kontemplativ-resignativer Würde als Eremit. Wohl für Hölderlin die drittbeste Lösung.


Gelesen in der sog. Bremer Ausgabe: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Reihenfolge. Herausgegeben von D. E. Sattler. Band V (Hyperion I) und VI (Hyperion II). München: Luchterhand, 2004.

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