Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten

Mephistopheles – um dessentwillen ich mich ja dieses Mal an die ganze Wiederholungs-Lektüre von Goethes Faust gemacht habe – Mephistopheles also spielt im zweiten Teil des Faust-Dramas keine oder genauer eine, um das Mindeste zu sagen, recht zweideutige Rolle. Da vieles im zweiten Teil in der Antike oder mit der Antike spielt, kann das auch nicht verwundern. Mephistopheles ist der nordische Typ, der Teufel des mittelalterlichen Christentums. In der – für die Deutsche Klassik „heiteren“ – Antike hat der düstere Geselle nichts verloren. Das zeigt sich in der Klassischen Walpurgisnacht ebenso wie im Helena-Akt. In der Klassischen Walpurgisnacht erlebt Mephistopheles, wie er für die antiken Gestalten plump und nichtssagend ist. Er, das ungekrönte Haupt seiner eigenen Walpurgisnacht, ist den Antiken eine Witzfigur. Er, der Schönheit nur im sexuellen Bereich „versteht“, kann die Gestalten der Antike nicht verführen, weil diese das Sexuelle transzendieren. Ja, zum Schluss der Walpurgisnacht wird er sich in den Inbegriff der Hässlichkeit verwandeln – und in eine Frau: Phorkyas. Doch nicht nur in der Antike, selbst im Zwischenspiel um die Schaffung des Homunculus ist er nur passiver Zuschauer. Wagner – einst Fausts Famulus, unterdessen ein Schwarzkünstler eigenen beachtlichen Ranges – kriegt das Menschlein ganz alleine hin. Homunculus anerkennt den Teufel als Vetter (und auch Mephistopheles seinerseits nennt die Schöpfung Wagners so), aber das ist nur die gegenseitige Anerkennung dessen, dass sie beide nicht auf natürlichem Wege erschaffen worden sind, beide im weitesten Sinne ins Reich der Dämonen gehören.

Auch bei der Geschichte um und mit Helena bleibt Mephistopheles eine vorwiegend passive Rolle zugeteilt. Weder kann er sie für Faust direkt aus der Unterwelt holen (dazu muss er ihn an die Mütter verweisen, ein in dieser Form von Goethe höchstpersönlich erschaffener Mythos), noch kann er später mehr als das mittelalterliche Schloss kreieren, in dem sich die Liebe zwischen Faust und Helena erfüllt. Aber das Schloss ist nebensächliche Requisite; die Geschichte zwischen Faust und Helena hätte sich letzten Endes auch in einem Hain abspielen können. Während des ganzen Helena-Aktes erscheint Mephistopheles gar nicht – jedenfalls nicht als er selber. Er ist in die zweideutigste aller möglichen Figuren gezwängt worden: in die alte Vettel Phorkyas. Hässlich und zugleich hermaphroditisch … Er tut einem nachgerade leid.

Natürlich hat Mephistopheles auch im zweiten Teil des Faust ein paar große Momente. Sei es seine Rolle als Hofnarr in der kaiserlichen Pfalz und als Erfinder des Papiergeldes (dessen Sicherheit er auf – angeblich noch nicht – aufgefundenen vergrabenen Schätzen im Boden des Kaiserreichs gründet, eine spekulative Finanzierung par excellence, die jeden Banker des 21. Jahrhunderts vor Neid erblassen lassen muss!), sei es seine spätere Stellung als oberster Untertan des nunmehrigen Fürsten Faust, bei der er abermals Schein vor Sein stellt, Faust eine Kolonialisierung und Urbarmachung der Territorien an der See vorgaukelt, die nie stattgefunden hat, ihm zum Schluss gar vormacht, dass am Graben zur Trockenlegung seiner Gebiete gearbeitet werde, während in Tat und Wahrheit seine Lemuren nicht einen Graben, sondern ein Grab, nämlich das des Faust, ausheben.

Zum Schluss stellt Goethe abermals den lächerlichen Mephistopheles auf die Bühne, einen Mephisto, der angesichts der Putten, die Fausts Grab umflattern, um sein Unsterbliches für den Himmel in Anspruch zu nehmen, der angesichts dieser Putten also in Liebesekstase verfällt – in eine Ekstase, die sich aber nur in sexuellen Anspielungen äußern kann – Anspielungen, die zudem noch an Pädasterie grenzen. (Man erinnere sich aber bitte dabei der Tatsache, dass Goethe Homosexualität als solche keineswegs verurteilte, sie vielmehr einfach zur Kenntnis nahm!)

Vieles ist in diesem zweiten Teil drin: Kosmologisches ebenso wie Staatsphilosophisches; Antike ebenso wie Renaissance und Humanismus; Mittelalter ebenso wie Barock; Shakespeare ebenso wie Calderón; Swedenborg ebenso wie Paracelsus; Theophrast, Anaxagoras und Thales ebenso wie Fichte – vieles ist also für den Leser, die Leserin, hier zu gewinnen. Einer aber hat im Vergleich zum ersten Teil verloren, und das nicht nur, weil ihm Fausts Unsterbliches durch die geilen Finger rinnt: Mephistopheles.

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