Etienne Barilier: Gegen den neuen Obskurantismus

Das Buch wurde gegen Ende des letzten Jahrtausends verfasst und nimmt die Millenniumsängste zum Anlass, um mit einem stärker werdenden Obskurantismus abzurechnen, der sich unter verschiedenen Vorzeichen gegen Aufklärung und Wissenschaftlichkeit wendet. Ob das immer wirklich gelungen ist, darf bezweifelt werden, einiges scheint Geschwätz, anderes klug und vorausschauend.

Barilier verteidigt das wissenschaftliche Weltbild gegen alle möglichen abstrusen Anfeindungen seitens esoterischer Strömungen aber auch gegenüber philosophischen Konzepten (wie den verschiedenen postmodernen und poststrukturalistischen Richtungen oder gegen den Relativismus Rortys). Die Abrechnung mit Rorty gehört dabei zum Besten des gesamten Buches: Im Abschlusskapitel “Den Barbaren gegenüber” weist er zu Recht darauf hin, dass Philosophen vom Schlage Rortys in ihrem Elfenbeinturm die “Barbaren” zu vergessen pflegen, “Barbaren”, die die scheinbar feinsinnigen und abgehobenen philosophischen Thesen für ihre Zwecke verwenden. “Er [Rorty] vergißt, welchen Nutzen die Barbaren aus unserem eleganten und heiter-gelassenen Verständnis für die Kontingenz ziehen. Er vergißt: Wenn wir uns zu einem Fortschritt ohne Rationalität und zu einer Geschichte ohne Geschichtlichkeit bekennen und wenn sich unsere Vernunft bemüht, sich selbst von jedem begründenden Anspruch loszusagen (wobei sie unsere ‘irrationalen’ Bestrebungen, nicht zu leiden und keine Leiden zu verursachen, elegant übersieht), läßt sie all jenen Kräften freie Hand, die nur danach trachten, die Vernunft zu verabschieden oder sie insgesamt zu ihrem Instrument zu machen.” Das ist für die Zeit des Erscheinens dieses Buches sehr hellsichtig gedacht, 20 Jahre später sind tatsächlich primitive, gewissenlose Barbaren am Werk, deren Ignoranz alles übertrifft, was bis dahin vorstellbar war.

Mit Recht unterstellt Barilier Denkern wie Rorty keinesfalls, eine Nähe zu diesem Barbarentum zu haben – im Gegenteil: Es handelt sich bei diesen Philosophen zumeist um Liberale, denen nichts ferner liegt als eine Infragestellung von Menschenrechten und die nicht zu den Anhängern jener tumben Demagogen gehören, die die Evolutionstheorie (aus Überzeugung oder Kalkül) gegen den Kreationismus einzutauschen wünschen. Doch sie vergessen, dass diese “Barbaren” sich genau der abgehobenen Argumente bedienen, “daß sie uns unverzüglich unsere instrumentale Vernunft, unsere ‘Rhetorik’, aus den Händen reißen und sie auf ihre Weise nutzen, ohne die geringste Achtung vor den elementaren Regeln der Redlichkeit zu haben, die das Wirken des kritischen Denken lenken.” (Meine Hervorhebung) “Zumindest müssen bestimmte Worte wahrer als andere bleiben, und die Suche nach der Wahrheit muß von bloßer Rhetorik zu unterscheiden sein.” Das beschreibt in weiser Voraussicht jenen “worst case”, der mittlerweile eingetreten ist und der unter verschiedenen Masken dumpfe Ressentiments schürt (in Österreich hat man die aalglatte Variante eines Sebastian Kurz, die sich nur in der Form von jenem Orbans oder Erdogans unterscheidet, aber das gleiche Ziel verfolgt).

Trotzdem klingen in den Zitaten schon die eher problematischen Überzeugungen des Autors an: So besteht er auf einem Fortschrittsbegriff, der sich ganz selbstverständlich auch auf ethische Belange bezieht. Der tatsächliche Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Moral, der in einem zu verfolgenden Wahrheitsethos besteht, bleibt dabei weitgehend unerwähnt, Wissenschaft und Technik allein sollen ganz selbstverständlich für einen solchen Fortschritt sorgen. Dabei thematisiert der Autor eher halbherzig die Tatsache, dass Wissenschaft und Technik selbstredend auch in den Dienst der Unmoral gestellt werden können und vergisst den entscheidenen Unterschied: Wissenschaft und Technik sind Instrumente der Politik, der Gesellschaft und es obliegt den Menschen, die moralisch bedenklichen Folgen abzumildern bzw. das Wohlleben zu fördern. Es ist die Wissenschaft, die Atombomben ermöglicht, es ist aber der Mensch, der sie baut und abwirft, wobei es keine Zwangsläufigkeit gibt, wie häufig unterstellt wird: Nicht jede Waffe wird, einmal erzeugt, auch verwendet. Die Vergangenheit beweist, dass in den letzten Jahrzehnten von diesem Waffenarsenal kein Gebrauch gemacht wurde.

Barilier will zu viel und zu wenig: So wendet er sich scharf gegen den “Obskurantismus”, hat dann aber überraschenderweise für Gott und Religion Platz (weil er naiverweise annimmt, dass “richtige” Religion nur Positives zeitigen können, eine Naivität, die bestürzt) und er glaubt im wissenschaftlich-technischen Fortschritt schon den moralisch-ethischen Fortschritt verborgen. Auch das ist naiv, die notwendige Wahrheitsliebe des Wissenschaftlers kann sich durchaus auf seine Tätigkeit beschränken (dort hingegen ist diese Wahrheitsidee Bedingung, erschummelte Erkenntnisse haben erfahrungsgemäß keinen Bestand), während er in seinem sonstigen Leben von Geldgier und Egoismus getrieben werden kann. Den Obskurantismus besiegen kann nur eine aufgeklärte Gesellschaft, eine Gesellschaft, die die Mythen der Vergangenheit und der (esoterischen) Gegenwart als solche erkennt und brandmarkt. Die Wissenschaft selbst trägt zu einer materiell besser gesicherten Existenz bei, Wohlwollen gegenüber dem anderen und Altruismus sind bestenfalls Kollateralschäden der naturwissenschaftlichen Forschung (wenn überhaupt). Und wenn sich der Autor – zu Recht – gegen jede Art von Dogmatismus wendet, so mutet seine Gleichsetzung von Kreationismus und Neopositivismus (der einzige Neopositivist, den er zu kennen glaubt, ist Claude Levi-Strauss – und der wäre der letzte gewesen, den ich als einen führenden Vertreter des Neopositivismus benannt hätte) mehr als seltsam an: Das liegt aber an seiner fast vulgär anmutenden Auffassung des Positivismus. Selbst Comte (der einzige, der ansonsten Erwähnung findet), ist kein dogmatischer Vertreter und sein von Barilier heftig kritisiertes Drei-Stadien-Gesetz verleiht eigentlich nur jenem Fortschrittsgedanken Ausdruck, den der Autor selbst vertritt.

Und so ist das Buch eine etwas zweifelhafte Lektüre. Bariliers Wurzeln liegen in der französischen Philosophie, er schreibt ausführlich über Hegel, Alexandre Kojève oder Fukuyamas “Ende der Geschichte”, er lobt Spinoza und Bayle (nun gut, das kann man tun), aber das wirkt alles ein wenig altbacken und wenig aktuell. Und es fehlt auch ein konsequentes Durchdenken seiner Obskurantismus-These: Nur dann kann man den Kreationismus verwerfen und für Gott trotzdem ein Plätzchen reservieren.


Etienne Barilier: Gegen den neuen Obskurantismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999.

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