Albert Vigoleis Thelen: Der schwarze Herr Bahßetup

Linguistisch-phonetisch – besser sollte ich sagen „philologisch“, denn im Laufe des Buchs wird Vigoleis, der Ich-Erzähler, von Professor Doktor José Alvaro da Silva, seines Zeichens Professor für internationales Privatrecht an der Universität von Curitiba in Paraná (Brasilien), als schlechter Philologe ausgelacht, weil ihm einmal eine Übersetzung nicht gelingt. Der Professor spricht in dem Moment ausnahmsweise Englisch – eine Sprache, die er nur rudimentär und mit Akzent beherrscht – weswegen dieses Wort in Vigoleis‘ Ohren klingt wie Feilolock, ein Wort, das er in der Folge von Zeit zu Zeit wieder aufnehmen und auf sich selber anwenden wird. Des Professors schlechte Sprachkenntnisse sind der eigentliche Grund, weswegen eben dieser Vigoleis überhaupt ins Hotel Pays-bas, das teuerste Hotel in Amsterdam, berufen worden ist: Der Professor nämlich ist in Kontakt mit einer niederländischen Großbuchhandlung alldorten, und hat angefragt, ob man ihm jemand stellen könne, der ihm als Dolmetscher und Begleiter im niederländischen Alltag behilflich wäre. Diese Anfrage wurde von Beatrice, Vigoleis‘ Gattin, die in dieser Buchhandlung arbeitet, an Vigoleis weitergeleitet, denn er spricht – wie auch Beatrice – fliessend Portugiesisch, haben die beiden doch die Zeit des Nationalsozialismus im portugiesischen Exil verbracht. (Der Roman spielt zu Beginn der 1950er Jahre.) Vigoleis unterbricht für diesen Auftrag sofort seine Arbeit am Roman Die Insel des zweiten Gesichts und begibt sich ins Hotel. Immerhin verspricht das Ganze ein bisschen höchst willkommenes Einkommen – das Paar lebt von dem, was Beatrice verdient; Vigoleis ist von seinem Roman absorbiert und der Betreibungsbeamte ist Dauergast bei ihnen. Wir sehen: Wie schon in eben dieser Insel, die zu schreiben er zum Zeitpunkt der Handlung des schwarzen Herrn Bahßetup im Begriffe zu sein vorgibt, mischt Thelen auch in diesem Roman Fiktion und Realität – vor allem die eigene Realität. Nicht allerdings, ohne diese (eigene) Realität in der Fiktion auf andere, zum Teil absurde, Ebenen zu hieven.

Linguistisch-phonetisch – dort habe ich den allerersten Satz liegen lassen und mich in bester und offenbar ansteckender Vigoleis’scher Manier in Abschweifungen verloren – linguistisch-phonetisch also ist der Titel des Romans recht interessant, beweist er doch, dass Thelen ein recht feines Ohr besaß. Bahßetup ist nämlich das erste Wort, das Vigoleis vom brasilianischen Rechtsgelehrten hört, als er ihn in der Hotel-Lobby trifft. Im ersten Moment hält er ihn ja für so etwas wie den Leibdiener des Professors und Bahßetup für seinen Namen. Thelen verbringt ein paar Seiten damit, das Missverständnis auszuräumen: Eigentlich ist der schwarze Riese der Professor und er beklagt sich über die sanitären Einrichtungen auf seinem Zimmer – allen voran die Badewanne, die gemäß seinen Angaben nur kaltes Wasser liefert. Badewanne, also auf Englisch ‚bathtub‘, oder eben im schweren brasilianischen Akzent des Professors: Bahßetup. Das feine Ohr Thelens – und damit komme ich langsam dahin, wo ich eigentlich hin wollte – hört nicht nur das für portugiesische und spanische Muttersprachler typische Problem, dass diese (weil es in genuin portugiesischen bzw. spanischen Wörtern so nicht vorkommt) den Übergang von einem Reibe- oder Nasallaut zu einem Verschlusslaut und umgekehrt nicht gut aussprechen können, ohne mehr oder weniger deutlich vorher oder dazwischen einen Vokal zu setzen. So gibt es im Portugiesischen kein Picknick sondern ein Pickinicki, und man spielt nicht Pingpong mit seinen Freunden sondern Pingipongi. Und so kommt es auch, dass der brasilianische Professor zwischen das englische ‚th‘ und und den Verschlusslaut ‚t‘ einen Übergangsvokal setzt, den man sich am besten als unbestimmten und unbetonten Schwa-Laut vorstellt. Um diese linguistische Besonderheit der iberischen Sprachen herauszufinden, genügen ein paar Monate Aufenthalt z.B. in einem portugiesischsprachigen Land. Dafür noch keine Bewunderung. Viel mehr bewundere ich Thelen dafür, dass er offenbar noch gehört hat, was der ursprüngliche Grund dafür war, dass es in den gebrochenen Schriftarten im Deutschen für den Reibelaut, den wir heute allgemein als ’s‘ auffassen, drei (oder vier) verschiedene Schreibweisen gab: neben ’s‘ auch ‚ſ‘ und ‚ʒ‘. – ’s‘ als stimmlosen Schlusslaut, ‚ſ‘ für (ursprünglich stimmhaften) An- oder Inlaut und schließlich ‚ʒ‘ für einen leicht gelispelten, stimmhaften s-Laut (ein schwaches englisches ‚th‘ also). Der stimmlos gelispelte s- Laut wurde mit der Kombination von ‚ſ‘ und ‚ʒ‘ angedeutet, die im Laufe der Zeit zum berüchtigten deutschen Sonderzeichen des ‚ß‘ führte. Dieses stimmlose ‚th‘ in der portugiesisch verfärbten, also abgeschwächten, Aussprache des Professors drückt Thelen in diesem seltsamen ‚ß‘ mitten im Wort Bahßetup aus. (Die letzte Rechtschreibreform hat π mal Daumen eingeführt, dass in einem Wort ’ss‘ verwendet wird, wenn der vorhergehende Vokal kurz und ‚ß‘, wenn er lang ist, und lässt jedes historische und phonetische Sprachgefühl vermissen. Sie kann allenfalls als Vorstufe zu einer definitiven Elimination dieses Sonderzeichens akzeptiert werden. Aber dazu wird den Reformen – und dies wahrscheinlich noch auf Jahrhunderte hinaus – der Mut fehlen.)

Im Übrigen besteht der Roman aus wenig Handlung und vielen – mehr oder weniger gelehrten – Exkursionen. Thelen mischt nicht nur Nietzsche und Börne aus der Widmungssseite auch in den Text oder lässt den Herrn Bahßetup und Vigoleis in Thelens Leibautor Teixeira de Pascoaes (der ihn während des Kriegs in Portugal beherrbergte) einen gemeinsamen Lieblingsautor finden. Er fasst in einer Exkursion Abu Bakrs Der Philosoph als Autodidakt ebenso zusammen, wie in einer anderen Maria Sibylla Merians Metamorphosis insectorum Surinamensium; er referiert über da Vinci und über die Brasilien-Reise des Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied oder ein andermal – standesgemäß in einer rechtshistorischen Bibliothek in Den Haag über den niederländischen Rechtsgelehrten Hugo Grotius. Und obwohl Herr Bahßetup wie Vigoleis Nichtraucher sind, lassen sie sich von einem niederländischen Schaffner Zigarren schenken. Selbst das Thema der Sklaverei in Brasilien spielt eine Rolle im Text.

Ich kann hier gar nicht alles erzählen, was Thelen in seinen Roman einflicht. Wer Exkursionen und Sprachspielereien mag; wer es mag, dass der Autor seine Figuren immer wieder anders nennt, ebenso die Handlungsorte – der sollte diesen Roman lesen. Wer so etas nicht mag, sollte es sein lassen. Was man nicht tun sollte, ist, wie Hans Werner Richter, den Roman lesen und ihn, weil man ihn nicht versteht, bzw., weil er eine Poetologie vertritt, die nicht die eigene ist, in Grund und Boden verdammen. (Was künstlerisch wie kaufmännisch für den Autor Thelen einem Todesurteil gleich kam.) Ich für meinen Teil mag Exkursionen und statte hier noch meinen Dank ab an Bonaventura (den Blogger, nicht den Scholastiker) dafür, mich in einem nicht einmal für mich bestimmten Tweet daran erinnert zu haben, dass ich neben der Insel des zweiten Gesichts auch diesen Roman Thelens endlich einmal lesen wollte. Verschiedene Versuche, ihn neu aufzulegen, sind immer wieder gescheitert. Der Roman verkaufte sich nicht; er ist aber antiquarisch problemlos in dieser oder jener Ausgabe aufzufinden. Meinerseits habe ich ein beim Verlag claasen 1983 erschienenes Exemplar gelesen.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 4

2 Replies to “Albert Vigoleis Thelen: Der schwarze Herr Bahßetup”

  1. Der Roman ist wirklich toll und sehr zu empfehlen. Und ich Danke für den Dank! Aber das hier stimmt eher nicht: „Die letzte Rechtschreibreform hat π mal Daumen eingeführt, dass in einem Wort ‘s’ verwendet wird, wenn der vorhergehende Vokal lang und ‘ß’, wenn er kurz ist, und lässt jedes historische und phonetische Sprachgefühl vermissen.“ Straße, nicht Strasse; Hass, nicht Haß. Wobei Umlaute per Definition lang sind: Klöße. Aber Beugungen sollen sich dann wieder an der Grundform orientieren: Küsse, nicht Küße, lässt, nicht läßt. Man sieht, es ist viel einfacher geworden.

    1. Nein, das mit den ’s‘ stimmt so natürlich nicht. Hat man nun davon, wenn man quasi in letzter Sekunde noch einen Satz umbauen will … – Ich habe es korrigiert, danke für den Hinweis!

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