Ian Mortimer: Im Mittelalter

Ian Mortimer versucht sich mit einem „anderen“ Geschichtsbuch: Nicht Daten, politische Ereignisse stehen im Mittelpunkt, sondern das Leben und Erleben des mittelalterlichen Menschen. Er schickt den Leser auf eine Zeitreise und gibt ihm verschiedenste Ratschläge, die er bei seinem Aufenthalt im 14. Jahrhundert berücksichtigen sollte – bezüglich Kleidung, Essen, Reisen, Hygiene u. v. m. Und dieser Versuch kann weitgehend als geglückt angesehen werden, das Buch ist eine amüsante und informative Erkundung vergangener Zeiten.

Zeitlich beschränkt sich das Buch auf das 14. Jahrhundert, geographisch auf England. Vieles aber kann wohl mit Fug und Recht auch auf das europäische Festland bezogen werden, wenn auch mit den notwendigen Abänderungen (die Ale-Brauerei dürfte etwa spezifisch britisch gewesen sein). Mitten in dieses Jahrhundert fallen die großen Pestepidemien, die je nach Landstrich bis zur Hälfte der Bevölkerung das Leben kosteten, wobei auch ohne diese Seuchen die Lebenserwartung eine bescheidene gewesen ist: Am schwierigsten waren die ersten Monate und Jahre, hatte man Zweistelligkeit erreicht, durfte man – je nach Stand – auf 35 bis 60 Lebensjahre hoffen. Missernten taten das ihre, traten sie knapp hintereinander auf, hatten Neugeborene kaum eine Chance.

Einige Kapitel, insbesondere jene über die Schifffahrt und die Kleidung, leiden allerdings unter dem Fehlen von Abbildungen bzw. Skizzen. Viele Fachbegriffe waren mir fremd und auch die farbigen Bildtafeln im Buch konnten da kaum Abhilfe schaffen. Anderes – über das Wohnen oder die Ernährung – schilderte hingegen eingängig einen (wenig erstrebenswerten) Zustand, die allgegenwärtigen Bettwanzen und der für die einfachen Bürger frugale Speiseplan (im Gegensatz zu dem der Adligen oder Mönche, wobei man es dort auch an den zahlreichen Fasttagen (fast die Hälfte des Jahres) verstand, für entsprechende Gaumenfreuden zu sorgen bzw. im Umgang mit den Fastenbeschränkungen recht kreativ war, indem man etwa den Biber zu den Wassertieren und damit den erlaubten Fischen zählte) bestehend aus Haferschleim oder -grütze, Gartengemüse, Brot (der Getreidepreis ist gesetzlich geregelt, sofern man denn aufgrund der Ernte überhaupt Getreide zur Verfügung hat) und im Winter ein wenig Fleisch (das Vieh durchzufüttern hätte sich nicht gelohnt, in anderen Zeiten war Fleisch die Nahrung der Reichen) wäre für den verwöhnten Bürger von heute kaum zumutbar (und die allenthalben stattfindenden und vorgeblich historischen Mittelaltergelage konnte man bestenfalls so bei sehr hochgestellten Personen finden).

Ausflüge in die Rechtssprechung (aufgehängt wurde häufig, dafür reichte schon Diebstahl) oder die Freizeitgestaltung (selten mal ein Tanz oder Fest mit Musik, eventuell konnte man zusehen, wie sich der Adel bei diversen Turnieren selbst massakrierte, die Todesrate bei dieser Unterhaltung scheint jedenfalls beachtlich gewesen zu sein) runden das sehr kurzweilige Buch ab. Mortimer gelingt eine historisch fundierte Darstellung, ohne Übertreibungen (sowohl im Positven als auch im Negativen) und vermag so ein lebendiges Bild einer Zeit zu zeichnen, die uns wohl nur sehr schwer erträglich scheinen würde. Wobei: Um festzustellen, wie geruhsam und materiell abgesichert unser aller Leben verläuft, muss man gerade mal 100 Jahre zurückgehen, noch für meine Eltern war in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg der Hunger etwas Alltägliches und die Nachwirkungen (etwa der Rachitis) ein Leben lang sichtbar. Man jammert heute bekannterweise auf hohem Niveau. – In jedem Fall ein informatives, amüsantes Buch – gänzlich frei von Mittelalterklischees.


Ian Mortimer: Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende. München: Piper 2014.

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