Orhan Pamuk: Schnee

Vor seinem Nobelpreis 2006 kannte ich Pamuk nur dem Namen nach, habe dann einen seiner Romane gelesen (Das stille Haus), den ich als angenehm in Erinnerung hatte (allerdings weiß ich kaum noch etwas Substanzielles über das Buch zu berichten). „Schnee“ ist nun ein explizit politisches Buch (und dies war der Grund für die Wahl), ein Buch, das die die Situation in der Türkei gegen Ende des letzten Jahrtausends beschreibt – mit seinen zahlreichen Regierungswechseln, dem Einfluss des Militärs und dem verzweifelten Versuch der Kemalisten, die zunehmende Bedeutung islamistischer Kreise zu beschränken.

Kerim Alakusoglu (im Buch Ka genannt) ist ein Lyriker, in Istanbul aufgewachsen, aufgrund politischer Agitationen kurz interniert (was in jener Zeit „normal“ war), dann nach Deutschland gegangen, wo er sich mehr schlecht als recht durchschlägt. Seine Fahrt nach Kars (einer ostanatolischen Stadt) und der durch den Schnee erzwungene Aufenthalt von einigen Tagen steht im Mittelpunkt des Romans: Vorgeblich will er über die Lokalwahlen berichten (bei denen sich ein Sieg der Islamisten abzeichnet), tatsächlich ist er aber (auch) an einer ehemaligen Studienkollegin (Ipek) interessiert, von deren Scheidung er Kenntnis hatte. Außerdem ist die Stadt Ort einer Selbstmordserie junger Mädchen, die die Bevölkerung beunruhigt und über die zu schreiben er gleich zu Beginn seines Aufenthalts gewarnt wird (die Selbstmorde stehen in Zusammenhang mit einem religiös bestimmten Leben, das jungen Frauen jegliche Entfaltungsmöglichkeit nimmt).

Ka wird in die politischen Intrigen verwickelt, er wird Zeuge eines Mordes an einem Universitätsrektor (der verschleierte Studentinnen sich aufzunehmen weigerte, weigern musste, eine Tatsache, die die Veränderungen in der Türkei in den letzten 20 Jahren treffend beleuchtet, da der Druck heute eher aus dem anderen Lager erfolgt), lernt einen islamistischen Prediger kennen, einen kurdischen (und ebenfalls tiefgläubigen) Freiheitskämpfer, verliebt sich unsterblich in Ipek und wird Zeuge eines wahren Theaterputsches: Sunay Zaim, Anführer einer Theatergruppe und ehemaliger Schauspieler, lässt im Rahmen einer Aufführung auf Islamisten schießen und übernimmt für kurze Zeit (der Zeit des Schnees) die Macht in Kars (ein Putsch von vielen in jener Zeit, der sich zumeist gegen den sich verstärkenden religiösen Einfluss richtete). Am Ende verrät Ka (vermutlich, das wird nie ganz aufgelöst) Lapislazuli, den Kurdenführer, der mit der Schwester Ipeks liiert war (und zuvor mit Ipek selbst, was Ka in Verzweiflung stürzt), viele Jahre später wird er in Deutschland (aus Rache?) ermordet.

Während ich anfangs die Darstellung der verschiedenen politischen Kräfte gelungen fand (weil realistisch, alle Seiten sind auf ihre eigenen, ganz persönlichen Vorteile bedacht und der Unterschied zwischen Kemalisten und Islamisten ist bestenfalls graduell), war ich mit Fortdauer der Handlung zunehmend genervt: Die Diskussionen erinnern an Dostojewskis Dämonen, an die unsäglichen Auseinandersetzungen darüber, ob mit dem Tod Gottes alles erlaubt sei und inwiefern diese metaphysischen Fragen die Politik beeinflussen (sollen), die Liebesgeschichte ist von lächerlicher Dramatik, alle Figuren verbindet ein pubertärer Revolutionseifer in Verbindung mit philosophischen Fragen, die meinetwegen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts relevant waren, aber mehr als 100 Jahre später seltsam abgestanden und altbacken wirken. Der eigentlich atheistische Dichter entdeckt im Gespräch mit dem Prediger seinen Glauben wieder, seine Reaktion auf die – natürlich wunderschöne – Ipek stünde einem pubertierenden 15jährigen wohl an, macht aber bei dem über 40jährigen einen seltsamen Eindruck. Dazu kommen die Dreiecksgeschichten, die schwer nachvollziehbare Erschütterung Kas bei der Entdeckung, das Ipek mit Lapislazuli ein Verhältnis hatte (offenbar vor Jahren) und die enervierenden Diskussionen über den lieben Gott (die noch platter erscheinen als bei einem solchen Thema ohnehin üblich).

Ich weiß nicht, was oder wen Pamuk mit diesem Buch kritisieren wollte, das Buch vermittelt den Geschmack eines aus der Zeit gefallenen Dostojewski light. Die Beziehungen zwischen den Personen sind banal, ein wenig dramatisch aufgebauscht (eigentlich wirken sämtliche Figuren wie pseudorevolutionäre und von Hormonen gebeutelte Gymnasiasten), einzig der Revolutionär Sunay Zaim und seine Frau können einige Originalität beanspruchen. Insgesamt fehlt es dem Buch an Haltung – und das könnte an Pamuk selbst liegen, der in einem Spiegelinterview gesagt hat: „Ich bezeichne mich selbst als jemanden, der aus einer muslimischen Kultur stammt. Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass ich ein Atheist bin. Also, ich bin ein Muslim, den mit dieser Religion vor allem historische und kulturelle Identifikation verbindet. Für mich gibt es keine persönliche Verbindung zu Gott, da wird es transzendent. Ich identifiziere mich mit meiner Kultur … []“. Was ist das für ein eigenartiges Gesülze: Ein Muslim, der nicht an den muslimischen Gott glaubt, die Feststellung, dass das Aufwachsen in einer islamisch geprägten Kultur Einfluss ausgeübt hat (trivialer geht’s nicht), jemand, der sich offenkundig nicht wirklich Gedanken über die Religion oder Gottesvorstellungen gemacht hat (bzw. nicht über Dostojewskis Gedanken zu diesem Problem hinausgekommen ist). Diese feige und intellektuell unredliche Einstellung findet sich auch im Protagonisten des Buches, weshalb das alles so unbefriedigend ist (schrecklich sind auch die lyrischen Eingebungen, die dem Dichter Ka immer wieder überkommen, die Gedichte ergreifen von ihm Besitz und in einem Schaffensrausch erbricht er Vers um Vers – so stellen sich 12jährige den Prozess des Schreibens vor): Langweilig, ohne jeden Tiefgang und durchschaubar. Die restlichen Pamukbände werden sich wohl noch einige Zeit im Regal gedulden müssen.


Orhan Pamuk: Schnee. Frankfurt a. M.: Fischer 2007.

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