Oliver Sacks: Die feine New Yorker Farngesellschaft [Oaxaca Journal]

Die New Yorker Farngesellschaft gibt es wirklich. Oder sagen wir genauer: Es gab sie sicher noch im Jahr 2000, als Oliver Sacks, offizielles Mitglied derselben, mit ein paar Vereinsschwestern und -brüdern, sowie Mitgliedern aus andern lokalen Sektionen der American Fern Society nach Mexiko reiste, um dort zu botanisieren. Die US-amerikanische Muttergesellschaft existiert noch heute; leider ist auf ihrer Homepage aber nicht ersichtlich, ob und wie sie zur Zeit lokal organisiert ist. Zu Sacks Zeit waren die meisten Mitglieder der New Yorker Farngesellschaft nahe dem Pensionsalter oder auch schon weit darüber hinaus, und auch wenn Sacks immer wieder deren große körperliche wie geistige Agilität betont: Überalterung ist das Schreckgespenst der meisten Vereine heutzutage – eine Überalterung, die, verbunden mit dem natürlichen Abgang der Mitglieder durch Tod, früher oder später in einem Absterben des Vereins selber endet.

Doch im Jahr 2000 ist es sicher noch nicht so weit. Die American Fern Society bzw. ihre New Yorker Lokalorganisation besteht aus Leuten, die ein spezielles Faible haben für Farne. Unsereiner kennt Farne bestenfalls als eine Art Bodenschmuck in unseren Wäldern, die dem Boden ein wenig Grün hinzufügen; aber es gibt auch hierzulande Leute, die in ihnen mehr sehen und ihnen ihr Leben widmen. Einige davon sind, wie in New York, Profis, andere aber Amateure. Sacks hatte von Kindheit an eine Schwäche für Farne, vor allem für die ganz primitiven, von denen man früher glaubte, dass sie am Anfang allen Grünzeugs standen, das das feste Land bedecken sollte. Der Knabe sah sich gerne in seinen Tagträumen in den antediluvianischen Farnwäldern spazieren, die man sich damals vorstellte. Das war der Grund, warum er, als er in New York lebte und arbeitete, der dortigen Sektion der American Fern Society beitrat. Ja, er, der vorher nach eigenen Angaben noch nie in Mexiko war, lässt sich überzeugen, an einer der grossen Exkursionen der American Fern Society teilzunehmen. Auf dieser Reise würde er – wie auf allen seinen Reisen – Tagebuch führen. Aber nur das Tagebuch dieser Reise würde er zu Lebzeiten veröffentlichen – mit nur wenigen Eingriffen in die Rohfassung, wie er selber schreibt. Im englischen Original trägt das Buch bei seinem Erscheinen den nüchternen Titel Oaxaca Journal, Oaxaca Tagebuch, nach dem mexikanischen Bundesstaat bzw. dessen Hauptstadt, die auch den zentralen Ausgangspunkt der Exkursionen der New Yorker Farngesellschaft bildete. Der Bundesstaat Oaxaca liegt weit im Südwesten Mexikos, dort, wo der Staat eine Landenge bildet und im Grunde genommen bereits zu Mittelamerika gehört (auch wenn sich Mexiko offiziell als nordamerikanischen Staat betrachtet).

Es gibt dort für unsere Gesellschaft nicht nur jede Menge Farne zu finden. Es gibt zum Beispiel auch Ruinen, archäologische Schätze – Überbleibsel der frühen Hochkulturen Mittelamerikas: der Olmeken, der Zapoteken, der Tolteken und, an letzter Stelle für den Führer der Gruppe (der sich auf zapotekische Wurzeln zurückführt), die schon beinahe barbarischen Azteken. Diese Überbleibsel alter Kulturen werden natürlich ebenfalls besichtigt. Auch wenn zwei oder drei nebenaus gehen und botanisieren, statt den Ausführungen des Guide zuzuhören. Sacks ist fasziniert von dem breit gefächerten Wissen, über das die Mitglieder des Vereins verfügen. Kein Wunder – es sind doch neben Biologen und dem Mediziner Sacks auch Chemiker anzutreffen oder Mathematikerinnen. Doch auch jenseits ihrer Fachgebiete zeichnen sich die Reisenden aus durch nicht nur breites, sondern auch tief gehendes Wissen, ein Wissen, das weit tiefer geht als das übliche Allgemeinwissens es normalerweise tut. Sacks schwärmt.

Er schwärmt auch vom Land und der Freundlichkeit der Einheimischen, die allesamt angestellt zu sein scheinen, um den Touristen Mexiko im bestmöglichen Licht darzustellen. Er schwärmt von der mexikanischen Küche. Selbst von den Heuschrecken, die man ihm serviert, schwärmt er – er findet an ihnen einen nussigen Geschmack. (Und in einer Anmerkung hält er fest, dass es – anders als für andere Insekten – eine rabbinische Sondergenehmigung zum Verzehr von Heuschrecken gäbe; was er auch gut findet, vernichteten doch im alten Israel immer wieder Heuschreckenschwärme die sowieso schon geringe und mühselige Ernte, und so konnte sich der Mensch gleichzeitig an ihnen rächen und sich doch noch ernähren … Es ist dies das einzige Mal, dass er seine jüdische Herkunft verrät.) Er schwärmt auch vom Kakao, wie man ihn dort, wo er wächst, trinkt: dickflüssig und mit Zimt und anderen Gewürzen versetzt. Sacks gesteht gar, in den paar Tagen Aufenthalt in Oaxaca süchtig danach geworden zu sein, und trinkt ihn auch am letzten Abend, als mexikanische Freunde für die Gruppe einen Grillabend organisieren. Grillfleisch und Kakao kann ich mir persönlich nicht ganz zusammen vorstellen, aber der offenbar sehr bittere und mit exotischen Gewürzen versetzte Kakao Mexikos ist mir auch unbekannt.

Sacks schwärmt auch vom Wissen und Können seiner Reisebegleiter. Ob es die Beherrschung verschiedenster Sprachen ist, die einer der besten Botaniker so nebenbei vorweist; die ornithologischen Fähigkeiten eines anderen, der Kolibris im Flug erkennt und bestimmt (wo Sacks gerade mal – gar nichts sieht); ob die Mathematikerin ihm an Hand des Neigungswinkels der Flügel zeigt, woran er Geier und Adler auch in der Ferne von einander unterscheiden kann (die er nämlich immer verwechselt); ob es die Zeichenkünste eines anderen Botanikers sind, der vor Ort Farne abzeichnet (denn allzu viele dürfen sie nicht als getrocknete Objekte oder ähnliches mit nach Hause nehmen – da sind auf beiden Seiten der Grenze der Zoll davor und umweltschützerische Bedenken); ob es die lokale Färbeindustrie mit Koschenillenschildläusen ist (Familienbetriebe, in denen noch fast alles von Hand gemacht wird); ob es der Ursprung nicht nur der Sache, sondern auch des Worts „Zigarre“ in der Sprache der May ist (Sacks raucht selber welche – es gibt eine Fotografie von ihm auf dieser Reise im Schatten eines Baums, sein Tagebuch schreibend und eine Zigarre rauchend, die die vordere Umschlagseite der Originalausgabe ziert); ja schon beim Abflug, als sich der Autor ein wenig vorkommt wie die Forschungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts (Wallace und Alexander von Humboldt werden explizit genannt – letzterer sogar mehrmals, da der Deutsche sich auch in der Gegend aufhielt, in die nun die New Yorker reisen): Sacks schwärmt.

Sacks Schwärmerei macht aus dem Buch ein liebenswertes Ganzes. Man hat das Gefühl, hier einem Mann in den zehn glücklichsten Tagen seines Lebens zu folgen. Solche Bücher sind selten – selten vor allem, dass sie nicht in Kitsch abdriften. Sacks driftet nicht ab.

Ich habe das Oaxaca Journal in der deutschen Übersetzung von Dirk van Gunsteren gelesen. (Warum er einen völlig anderen Titel gewählt hat und darin von einer feinen Gesellschaft redet, und warum er, wenn schon, Society nicht eher mit „Verein“ oder „Vereinigung“ übersetzt hat, kann ich leider nicht sagen.) Die Originalausgabe erschien 2002 bei der National Geographic Society in Washington D.C. Vor mir liegt eine Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die auch einige der Zeichnungen von Dick Rauh enthält, jenem Mitglied der New Yorker Farngesellschaft, das zusammen mit Sacks an der Reise nach Oaxaca teilnahm. Die Zeichnungen gehören zu denen, die Rauh direkt an Ort und Stelle anfertigte und von denen Sacks auch in seinem Text spricht.

Ich habe noch nie einen persönlicheren und doch zugleich immer auch sachlich derart informativen Reisebericht gelesen. Sacks Fähigkeit, Gesehenes und Gehörtes aufzubewahren und mit anderem Gesehenem und Gehörtem (meist in Form von Anekdoten) zu verbinden, machen aus diesem Büchlein mit weniger als 200 Seiten ein kleines Juwel der Reiseliteratur.

PS. Sacks kann natürlich auch seriös

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