Tarascon ist eine Kleinstadt im Süden Frankreichs, im so genannten „Midi de la France“. Tartarin ist ihr berühmtester Bürger. Tarascon gibt es wirklich; das Städtchen liegt in der Nähe von Arles und Avignon, am linken Ufer der Rhône. Am andern, dem Westufer, liegt Baucaire, dazwischen gibt es eine Brücke. Baucaire habe ich als durchschnittliche Kleinstadt in Erinnerung, wie es sie zuhauf in der europäischen Landschaft gibt – Tarascon als bedeutend pittoresker. Tartarin seinerseits hat nie existiert. Er ist „nur“ eine Figur in drei Romanen von Alphonse Daudet – von denen der vorliegende der erste ist, sowohl zuerst erschienen (1872), wie auch von der Lebensgeschichte Tartarins.
Mit Tartarin von Tarascon ist Daudet ein literarischer Coup sondergleichen geglückt. Der im ersten Roman etwa 45 Jahre alte Kleinbürger, der das dritte Haus von links am Chemin d’Avignon bewohnt, ein gemütliches kleines Kleinbürgerhaus, wie es deren Dutzende gibt in Dutzenden von französischen Kleinstädten, ist zum Wahrzeichen des Südfranzosen geworden – zu seiner eigentlichen Verkörperung.
In Tartarins Brust wohnen zwei Seelen, die der Erzähler auch benennen kann: Da ist Don Quijote, der Abenteuer erleben und die Welt bereisen will. Und da ist Sancho Pansa, der zu Hause am warmen Kaminfeuer in der warmen Wollweste sitzen will. Abenteuer? Ja. Aber nur als Lektüre am Abend: James Cook, James Fenimore Cooper, Mungo Park, David Livingstone und auch alle Franzosen, die je die wilden und unwirtlichen Gegenden der Welt bereist haben. Vor allem die Erzählungen von Großwildjagden haben es Tartarin angetan. Seine Wohnung, sein Haus, ist verziert mit allen Arten von Waffen – fein säuberlich beschriftet und mit einem Warnhinweis versehen, wenn das Gewehr geladen oder die Pfeilspitzen vergiftet sein sollten. In seinem Garten wimmelt es von exotischen Pflanzen – eigentlich hat er nur solche. Das Wahrzeichen dieses Gartens ist sein Boabab – ein Affenbrotbaum. Doch alle diese exotischen Pflanzen zeichnen sich bei Tartarin durch eine ganz bestimmte Besonderheit aus: Selbst die größte unter ihnen, der Affenbrotbaum, ist ein Zwerg geblieben, der nicht einmal halbe Mannshöhe erreicht.
Tartarin ist nicht nur ein Träumer. Er ist auch ein Erzähler. Genauer: ein Aufschneider. Er gibt sein angelesenes Wissen über Waffen oder Großwildjagd als eigenes, praktisches Wissen aus. Dass er einmal beinahe als Leiter einer Handelsniederlassung nach Schanghai gegangen wäre, hat sich in seinen Gedanken längst zu einer reellen Tat verfestigt, von der er seinen Freunden in der Stadt immer wieder erzählt. Diese seine Freunde hören ihm gern zu – er kann so spannend von den Überfällen erzählen, die man auf seine Niederlassung verübt hat, und davon, wie er sie heldenhaft zurück geschlagen hat. Mit andern Worten: Tartarin ist der Südfranzose schlechthin. Daudet, der selber aus Nîmes stammte, kannte diesen Typus nur allzu gut.
So weit, so gut. Tartarins Leben hätte in diesem ruhigen Fluss weiter gehen können. Wenn da nicht … Ja, wenn da nicht eines Tages ein paar Schausteller in die Stadt gekommen wären. Hauptattraktion ihrer Show war ein „wilder“ Löwe. Tartarin konnte nicht widerstehen. Er fing, als ob er es selber schon oft gemacht hätte, an, davon zu erzählen, wie ein Löwe gejagt wird. Diese Mal aber übertrieb er seine Übertreibungen. Die Stadtbevölkerung verlangte für einmal nicht nur Worte, sondern Taten: Tartarin sollte nach Alger, in die dortige von Frankreich frisch unterworfene Kolonie, um einen Atlas-Löwen zu erledigen und sein Fell nach Hause zu bringen. Tartarin ließ sich hinreißen und stimmte zu. Später allerdings, wieder in seinen gemütlichen vier Wänden, gewann sein innerer Sancho Pansa wieder die Überhand. Doch alle Versuche Tartarins, die Reise so lange hinaus zu zögern, bis die Stadt sie vergessen hätte, blieben erfolglos. Und so zieht er aus Tarascon aus, begleitet von der ganzen Stadt. Er ist ein Held und wie jeder Held hat er nun seine Quest. Die seine ist nicht Helena und Troja, nicht der Heilige Gral – es ist ein Löwenfell.
So erleben wir in der Zweiten Episode (also dem zweiten von drei Teilen, in die das Buch gegliedert ist) Tartarin bei den Türken. (Denn, wie für jeden echten Kleinbürger hörte für ihn im Grunde genommen die Welt an den Toren seiner Stadt auf. Alger, Konstantinopel, Nordafrika, das Osmanische Reich oder Mesopotamien – das war für ihn alles ein und dasselbe. Und es war für ihn vor allem eines: mit dem unwiderstehlichen Geruch von Tausendundeiner Nacht getränkt.) In der ganzen Zweiten Episode, im ganzen Mittelteil des Romans, erleben wir, wie Tartarin in Alger umher wandelt. Seine Löwen hat er vergessen, denn da ist eine junge Araberin (oder was er dafür hält), die ihm mit ihrem Augenaufschlag im Bus den Kopf verdreht hat. Mit Hilfe seines auf der Überfahrt von Marseille nach Alger erworbenen neuen Freundes Grégory, seines Zeichens Prinz von Montenegro, findet er und erobert er sie. Und wenn ihm nicht zufälligerweise ein Zeitungsfetzen aus der Heimat in die Finger gekommen wäre, in dem geschildert wird, wie sich seine Freunde in Tarascon Sorgen um ihn machen (denn: nach Hause zu schreiben, hat er völlig vergessen – für die Bewohner von Tarascon gilt er als in der Sahara verschollen), würde er wohl noch heute seine bescheidene Rente mit seiner Suleika durchbringen.
So aber macht er sich doch noch auf. Im dritten Teil aber, der den Titel Bei den Löwen trägt, ändert Daudet den Ton der Erzählung zwischendurch frappant. Bisher klang der Erzähler immer so, als ob er der größte Bewunderer von Tartarin sei. Manchmal nahm er ihn ironisch ein wenig auf die Schippe, aber es blieb die Geschichte eines liebenswerten Aufschneiders, erzählt von seinem größten Fan. Nun aber, wo Tartarin ein wenig die Kolonie bereist, wird der Erzähler oft genug ernsthaft. Er – und hierin ist er wohl das Sprachrohr Daudets – kann dem französischen Kolonialismus wenig abgewinnen. Dieser spülte seiner Meinung nach bei den Kolonialherren wie bei den Kolonialisierten nur den Abschaum nach oben. Statt ökonomisch-politisch gescheit zu agieren, suchte jeder nur den kurzfristigen eigenen Vorteil. So kam es, dass – was weiland die Kornkammer des antiken Rom war – nicht ein einziges Gramm Getreide ins „Mutterland“ exportieren konnte. Ja, die eigene Bevölkerung musste hungern, während ein paar Reiche in ihren Zelten vor deren Augen riesige Fress-Feste aufführten. Selbst der Geruch von Tausendundeiner Nacht war Talmi: Die vermeintliche Araberin, um derentwillen Tartarin sich beinahe zum Islam bekehrt hätte, stammte aus den Vorstädten von Marseille und der Prinz von Montenegro war ein polizeibekannter Hochstapler. Nur der Gutmütigkeit des Kapitäns jenes Dampfers, auf dem er schon die Hinreise gemacht hatte, hatte er es zu verdanken, dass er wieder nach Marseille kam – denn sein Geld war ihm vom „Prinzen“ auf der Jagd gestohlen worden.
Wurde Tartarin nun ein besserer, ein wahrhaftigerer Mensch? Wir müssen die Frage leider verneinen. Wohl war er am Boden zerstört und wünschte sich, in denselben zu versinken beim Gedanken daran, wie ihn die Bevölkerung von Tarascon auslachen würde, wenn sie erführe, welche Abenteuer er in Tat und Wahrheit erlebt hatte. Doch es sollte anders kommen. Denn es begab sich, dass das Fell des einzigen Löwen, den er in Afrika geschossen hatte (er war ihm in der Stadt begegnet, und das Tier war zahm gewesen, alt und blind – aber das wusste Tartarin nicht, als er auf ihn anlegte), bereits in Tarascon angekommen war. Wenn wir noch sein Reitkamel hinzurechnen, das seit der Jagd nicht mehr von ihm lassen konnte und ihm gegen seinen Willen aus der Wüste zurück nach Alger, ja nach Marseille, nach Tarascon, gefolgt war, hatte er wider Erwarten Trophäen vorzuweisen, die ihn als echten Jäger legitimierten. Und so verlassen wir Tartarin, wie er gegenüber seinem Freund, dem Apotheker der Stadt, anfängt, sein Jägerlatein zu spinnen darüber, wie er diesen Löwen erwischt habe.
Tartarin von Tarascon wurde zum Sinnbild des Südfranzosen. Wer jene Gegend und / oder liebenswerte Aufschneider mag, Parodien auf Abenteuer- und Heldenromane, wird mit diesem kleinen Roman gut bedient sein.
Ich für meinen Teil habe es in einem Taschenbuch der Pockets Classiques gelesen, das auch noch Materialien hinzufügt. Darunter sind Auszüge aus den beiden andern Romanen mit Tartarin; die als Zeitschriften-Fortsetzung erschienene Frühfassung (in der Tartarin noch nicht Tartarin hieß); Ausschnitte aus Daudets Autobiografie (denn der Autor war mit seinem Cousin als junger Mann tatsächlich selber in Nordafrika und auf Löwenjagd gewesen); aber auch literarische Vorbilder und Vorläufer, u.a. Texte von Gautier oder eine Schilderung des Löwen und seiner Jagd in Buffons Naturgeschichte. Das ist interessant zu lesen, aber nicht notwendig, um den Roman zu verstehen. Tartarin versteht man auch so …