Kinder- und Jugendliteratur weist fast immer eine pädagogische Nutzanwendung auf; wird diese zu dick aufgetragen, mag sie den einen oder anderen Erwachsenen vielleicht befriedigen; die Jungen werden – wo und falls sie können – die Lektüre abbrechen oder zumindest solche Passagen überfliegen, wenn anders die Geschichte als solche sich als einigermaßen fesselnd erweist. Die Konditorei Zum Schielenden Jim ist ein Kinderbuch – zumindest spricht der Autor seine Leserschaft immer wieder direkt als Kinder an. Eine Moral ist vorhanden, und sie ist sogar ziemlich dick aufgetragen. Dennoch wage ich zu behaupten, dass das Zielpublikum, die Kinder, trotzdem fertig lesen werden und vielleicht dem Autor seine dick aufgetragene Moral nicht einmal verübeln. Das eine oder andere Kind mag sie sogar überlesen. (Vielleicht aber – dazu siehe weiter unten – sind die Kinder gar nicht das Zielpublikum?)
Denn das Buch erzählt nicht einfach eine Geschichte. Es erzählt eine Geschichte vom Geschichten-Schreiben und – noch viel mehr – vom Lesen von Geschichten. Spannend ist dieses Buch auch noch, und – vor allem: Es ist lustig. Es ist sogar für Erwachsene komisch. Ja, es ist vielleicht für Erwachsene noch komischer als für Kinder. Denn Toman erzählt nicht nur lustig, ironisch distanziert und trotzdem mit Liebe zu seinen Figuren (sogar zum Bösewicht!). Er erzählt auf verschiedenen Meta-Ebenen, die vielleicht Kindern noch gar nicht zugänglich sind. (Ich glaube aber trotzdem, dass Kinder ab ungefähr 10 Jahren das Buch lesen können – es finden sich auch so noch genügend lustige und spannende Stellen im Buch.)
Die Geschichte fängt an, indem wir Sakraflixt-Bill, einem Fallensteller und Goldgräber im Wilden Westen, beim Erwachen und Aufstehen zuschauen. Er hat es eilig, denn er muss offenbar zu einer bestimmten Zeit in Shief sein, einer Stadt im Nirgendwo des Westens. Die unerwarteten Hindernisse, die sich vor ihm auftürmen, überwindet er in bester Münchhausen-Manier (und das ist auch lustig für welche, die Münchhausens Geschichten nicht kennen; und ob Toman sie kennt, weiß ich nicht – er spielt nie darauf an). Sakraflixt-Bills Einmarsch in die Stadt wird geschildert, wie wenn es sich um eine Szene aus einem alten Italo-Western handeln würde: quietschend Schuhe im Staub der Straße, auf der Veranda vor dem Saloon ein quietschender Schaukelstuhl, darin der Barkeeper des Saloons, der auf der Mundharmonika eine melancholische Melodie spielt. Ob die Kinder diese Anspielung auf alte Filme verstehen, ist nebensächlich; wichtig ist die Information, die der Autor in dieses Einzugskapitel verpackt: Dass hier ein Saloon ist, der – anders als man es erwarten würde – von keinem Trapper und keinem Cowboy frequentiert wird. Der Grund ist die Konditorei gegenüber. Deren Besitzer, der Schielende Jim genannt, hat nicht nur kulinarische Trümpfe in Form von ausgezeichnetem Dessert-Gebäck und erstklassigem Kaffee, mit denen er den Saloon aussticht – er hat vor allem die wöchentliche Leserunde, die Schlingen-Boženka, die Gefängnis-Bibliothekarin, mit den Trappern durchführt, die sich gerade außerhalb des Kittchens befinden.
Womit wir bei der ersten und wichtigsten pädagogischen Nutzanwendung stehen, die der Roman enthält. Er will die jungen Leute zum Lesen animieren. Nicht zum Lesen irgendwelcher Literatur, nein, es sind die bekanntesten Klassiker der Weltliteratur, die Boženka ihrem Publikum vertraut machen will. Schon bei der ersten Lesestunde, die wir LeserInnen mitmachen, erleben wir, wie Sakraflixt-Bill das wichtigste Erlebnis seines Ausflugs in die Wildnis erzählt – seinen Kampf mit einem riesigen weißen Vielfraß, den er erlegen will. Er erzählt ziemlich ungelenk, aber Boženka findet darin die Geschichte des weißen Wals Moby-Dick und macht ihr Publikum in Ausschnitten damit bekannt.
(Sakraflixt-Bill erzählt in seiner Geschichte auch davon, wie der riesige Vielfrass rasant einen Tunnel zu graben beginnt, um unter ihm, Bill, hindurch zu kommen, und wie er mit Stampfen diesen Tunnel zum Einbrechen bringt – und ich weiß jetzt nicht, ob Toman jenen anderen Jugendroman kennt, der ebenfalls eine ‚Parodie‘ auf Moby-Dick darstellt: Rail Sea von China Miéville.
In einer späteren Leserunde wird ein anderer Trapper aus seiner Vergangenheit erzählen – eine Geschichte davon, wie ein Indianerhäuptling seine Schwester verführt. Auch hier löst Boženka auf: Es ist die Geschichte von Romeo und Julia, erzählt als Geschichte zweier rivalisierender Gangs.Auch hier weiß ich nicht, ob Toman jenen Kriminalroman kennt, der ebenfalls eine ‚Parodie‘ auf Shakespeares Stück ist – Schlag nach bei Shakespeare von Phoebe Atwood Taylor. Gewisse Anzeichen lassen es mich in beiden Fällen vermuten; und ich denke, auch wenn er viele Anspielungen auflöst, so will sich der Autor doch nicht in alle Karten blicken lassen. Das macht, dass ich diesen Jugendroman auch als für Erwachsene interessant einstufen kann.)
Die Indianergeschichte führt auf ein weiteres Thema: den Hass, den die Weißen, auch in dieser Geschichte, auf die Indianer empfinden. Hier nun lässt Boženka ihre Leute – Karl May lesen, Ausschnitte aus Winnetou I über die Blutsbrüderschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand, sowie Mays Auslassungen über die schlechte Behandlung, die die Weißen den Indianern angedeihen lassen.
Das Idyll des Städtchens Shief wird nun aber gestört durch das Auftauchen des literarischen Gangsters Dante Skunk Shakespeare. Er repräsentiert die Gegenseite, will sagen: Wenn Boženka idealistisch-heroische Literaturinterpretation bevorzugt, so ist Dante Skunk Shakespeare der Zyniker. Wo Boženka bei Jane Austen den Kampf der Frau um Anerkennung sieht, findet der Bösewicht nur ein dummes junges Mädchen. Wo Boženka im Grafen von Monte-Christo einen edlen zu Unrecht Verfolgten sieht, findet der Bösewicht einen, der seine Macht und sein Geld zur Rache missbraucht. Diese interpretatorischen Diskrepanzen löst der Autor nicht auf, auch wenn er in einer Art literarischem Show-Down vor der Türe der Konditorei Boženka und Dante Skunk Shakespeare natürlich die Gute siegen lässt. Dennoch hat die Geschichte ein offenes Ende, denn der Kampf zwischen den Beiden ist Nebensache geworden. Auch hierin, wage ich zu behaupten, haben wir ein Buch für Erwachsene oder, sagen wir besser, für erfahrene LeserInnen vor uns.
Im Übrigen finden wir noch weitere Späße auf anderen Meta-Ebenen in diesem Buch. Und hier ist auch das Buch als physische Entität gemeint. Das Buch ist als Klappbroschur erschienen, und auf der vorderen Klappe finden wir – an Stelle der üblichen Lobeshymnen von AutorenkollegInnen und KritikerInnen – Bemerkungen zu diesem Roman vom Personal selber, aber auch von Karl May und von Alexandre Dumas …
Ähnlich ironisch-parodistisch handhabt der Autor auch die Fuß- bzw. Endnoten. Neben sachlicher Information (die auch korrekt ist) finden wir darin immer wieder witzige Bemerkungen und Seitenhiebe – sei es auf die Figuren und deren Handlungen, sei es auf die zu erklärenden Wörter. Immerhin sollte nicht verschwiegen werden, dass Toman (wohl bewusst) einen sehr elaborierten Wortschatz pflegt – elaborierter jedenfalls, als es einem Kind zuzutrauen ist. Das muss halt dann irgendwie erklärt werden und ist vielleicht auch eine kleine Abrechnung unter Autoren mit jenem Karl May, dessen Winnetou die böhmische Bibliothekarin derart in den Himmel hebt.
Zur übrigen Ausstattung des Buchs: Die Illustrationen stammen von Františka Loubat. Es handelt sich bei ihnen um schwarz-weiße Tusch- und Tintezeichnungen, meist ganz- und manchmal gar doppelseitig – alle aber vom Stil her keineswegs kindlich.
Der Schluss, den ich nicht verraten möchte, ist meiner Meinung nach etwas seltsam und wirkt auch etwas aufgesetzt – mag sein, auch nur deswegen, weil ich in tschechisch-böhmischer Geschichte nicht ganz firm bin. Dennoch habe ich mich schon seit längerem bei einer Lektüre nicht mehr so gut amüsiert, wie bei diesem „Kinderbuch“ hier.
Marek Toman: Die Konditorei Zum Schielenden Jim. Illustrationen: Františka Loubat. Aus dem Tschechischen von Raija Hauck. Klagenfurt: Drava, 2020.
Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
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