Saul Friedländer: Proust lesen

Proust lesen: Das heißt vor allem, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lesen. Proust lesen heißt für Friedländer aber auch: In Proust lesen, nämlich – um es pathetisch auszudrücken – in Prousts Seele lesen. Denn Friedländer will nicht nur Prousts Großroman verstehen, er will auch und vor allem Proust selber verstehen. Dazu unterscheidet er im Roman und in Proust drei wichtigen Themenkreise: Judentum, Homosexualität und die Mutter. Diesen drei Themen geht er in seinem Essay nach.

Das ist nicht ganz problemlos; und Friedländer gibt selber einige der Probleme zu. Das sicher größte Problem ist, dass er, um zu einem Resultat zu kommen, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (semi-)autobiografisch lesen muss, den Erzähler immer und immer wieder mit Marcel Proust gleichstellen oder vergleichen. Das ist (und Friedländer gibt es ja auch zu) eine gefährliche interpretatorische Situation – meist eine für eine Interpretation tödliche Falle.

Es bringt auch den vorliegenden Essay in ziemliche Schwierigkeiten. Die Erklärung zum Beispiel, warum der Erzähler (Friedländer unterscheidet in seinem Text den Menschen Proust von seiner Kunstfigur, dem Erzähler) in seinem Bericht Homosexuelle (ob Männer oder Frauen) immer wieder schlecht darstellt und als invertis (zu Deutsch etwa: Verkehrte) verteufelt, Proust selber aber in seinem Leben und seinen Briefen – also zumindest im Freundeskreis – recht offen zur eigenen Homosexualität stand, kann nicht befriedigen, um so weniger, als Friedländer die am nächsten liegende Erklärung – dass die Invektiven im Roman eine Art Rauchpetarden waren, die Proust zündete, um das allgemeine Publikum von seinem Privatleben fern zu halten – als Friedländer also diese Erklärung rigoros zurückweist.

Beim Judentum stehen wir vor einem anderen Argumentationsproblem Friedländers. Er geht aus von der berühmten Stelle im Brief an Robert de Montesquiou, in dem Proust recht verschwommen zu erklären versucht, warum er sich in Bezug auf Judentum und Antisemitismus (es war die Zeit der Dreyfus-Affäre) nicht klar und öffentlich äußern wolle. Tatsächlich versteht man nicht, was Proust sagen will, außer der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass seine Mütter Jüdin war. Daraus nun zieht Friedländer den Schluss, dass Proust Jude gewesen sei, sich als Jude gefühlt habe. Ich halte diesen Schluss für übereilt und falsch Zwar ist es in der jüdischen Tradition tatsächlich so, dass das Judentum eines Kindes über die Mutter vergeben wird; der Sohn einer Jüdin wird als als Jude betrachtet. Konfessionell aber braucht dem keineswegs so sein. Proust war offiziell katholisch getauft worden. Sicher kannte er von seiner Mutter ein paar jüdische Traditionen; sicher wäre er, hätte er das Dritte Reich erlebt, als Halbjude verfolgt worden – aber dass Proust sich als Jude gefühlt habe, kann daraus nicht geschlossen werden. Seine Herkunft als Sohn einer Jüdin gab ihm bei der Dreyfus-Affäre natürlich eine zwiespältige Position: Die meisten Juden plädierten pro-Dreyfus, nicht weil sie von seiner Unschuld überzeugt waren, sondern ganz einfach, weil Dreyfus Jude war. Einige mochten (zu Recht) hinter dessen Verurteilung antisemitische Machenschaften in der französischen Armee vermuten. Es gab auch Nicht-Juden, die dasselbe vermuteten, und sich ebenfalls für eine Wiederaufnahme des Verfahrens aussprachen. Aber dem Sohn einer Jüdin hätte man rassische Motive zugesprochen bei einer Stellungnahme für einen Juden. Auch war wohl Prousts Haltung gegenüber dem Glauben und dem Volk seiner Mutter wirklich zwiespältig: Im Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit finden wir immer wieder bewundernde neben plump antisemitischen Worten für die darin vorkommenden Juden. Dasselbe können wir in Prousts Leben feststellen. Selbst Friedländer muss es zugeben: Proust war befreundet mit den extrem rechtskonservativen und antisemitisch eingestellten Daudets (Vater Alphonse ebenso wie die Söhne Léon und Lucien).

Um die beiden Punkte zusammenzufassen: Friedländer sieht es zwar in beiden Fällen, wischt es aber letztendlich beiseite, aber nirgends wird erwähnt, dass der Erzähler Jude sei. Oder homosexuell. Schon das verbietet meiner Meinung nach jede Lektüre der Suche nach der verlorenen Zeit ad hominem.

Last but not least die Mutter, die die große Liebe seines Lebens gewesen sein soll. Auch hier finden wir in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durchaus zwiespältige Aussagen. Da sind die einführenden Szenen aus früher Kindheit, wo der kleine Erzähler sehnsuchtsvoll auf den Gutenachtkuss seiner Mutter wartet. Da ist aber auch die Tatsache, dass irgendwann im Roman Vater und Mutter einfach verschwinden. Sie sterben nicht; sie kommen einfach nicht mehr vor. Friedländer ist ehrlich genug, das zuzugeben, will aber dennoch an der wichtigen Rolle der Mutter für Proust festhalten. Dass er hier – vielleicht unbewusst? – ein homophobes Klischee bedient, sei nur am Rande erwähnt: Der Homosexuelle, der, weil er dem übermächtigen Vater die Mutter nicht abspenstig machen kann, sich völlig von den Frauen ab- und den Männern zuwendet. Küchenpsychologie, die – obwohl er vermutet, Proust hätte ihn auch gelesen und seine Thesen in seinen Roman eingebaut – wohl eher Friedländer selber von Otto Weininger ausgeliehen hat. (Weininger, der auch behauptet hat, dass sowohl Homosexuelle wie Juden allesamt weiblicher Natur seien – er war beides …)

Summa summarum: Auch wenn ich mich hier auf die Schwächen konzentriert habe, muss ich doch festhalten, dass Friedländers Essay im Großen und Ganzen sehr intelligent geschrieben ist und eine Auseinandersetzung im Positiven wie im Negativen lohnt. Er ist das, was ich „anregend“ nennen möchte. Wenn auch oft in negativer Form anregend – nämlich, weil man versucht ist, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wieder zu lesen, um ihn noch besser und genauer widerlegen zu können. Insofern gebe ich dem Klappentext Recht:

Am Ende überkommt den Leser nur noch ein dringender Wunsch – Proust lesen.

(Nebenbei, lieber Verlag: Gibt es denn keine Leserinnen von Proust?)


Saul Friedländer: Proust lesen. Ein Essay. Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel. München: C. H. Beck, 2020.

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