Über nichts Geringeres als Über die Beschaffenheit der Welt will Lukrez in diesem sechsbändigen Lehrgedicht schreiben. Er folgt dabei dem Lehrer seiner Schule, Epikur, ziemlich genau. Jedenfalls kann man selbst bei den wenigen noch überlieferten Schriften Epikurs nachweisen, dass er den einen oder anderen Ausschnitt daraus übersetzt und in sein Lehrgedicht übernommen hat. De rerum natura wird heute vor allem als eines der ältesten, bzw. als das am besten erhaltene Werk (auch hier fehlen zwischendurch ein paar Zeilen und wahrscheinlich auch der Schluss) zur atomistischen Naturphilosophie der Antike betrachtet. Aber eine Reduktion auf Naturphilosophie tut Lukrez‘ Intention ebenso Unrecht, wie es Epikur Unrecht tut, wenn man ihn vorwiegend als Naturphilosophen betrachtet.
Die atomistische Naturphilosophie dient im Gegenteil bei Lehrer wie Schüler dazu, die bestmögliche menschliche Lebensweise zu definieren. Dazu bringt Lukrez im Gefolge seines Meisters folgende Argumentation vor:
Die Welt besteht aus Atomen. Nur aus Atomen. Atome sind winzig kleine, harte Körper mit verschiedenen Formen. Diese Verschiedenheit der Formen macht, dass sich diese Körperchen mehr oder weniger eng zusammenschließen können. Es bleibt aber auf jeden Fall zwischen ihnen leerer Raum, den die Materie benötigt, damit Bewegung überhaupt möglich wird. Die Zahl der Atome ist unendlich groß; die Zahl der Formen von Atomen hingegen beschränkt. (Wäre das nicht so, meint Lukrez, müssten auch Lebewesen wie fliegende Fische, die in Bäumen nisten, möglich sein, oder Kentaure. Denn die Atome sind unter anderem auch so etwas, wie die Samen, aus denen Lebewesen entstehen können.) Weil es unendlich viele Atome gibt, wird es nach Lukrez auch unendlich viele verschiedene Welten geben. Diese Welten sind ebenso endlich, wie die menschliche Existenz. Damit will uns Lukrez die Angst vor dem Sterben nehmen. Denn auch der Mensch besteht ja nur aus Atomen, sein Körper ebenso wie seine Seele. Letztere besteht einfach aus noch kleineren Atomen als die sonst schon kleinen Samen, die den Menschen bilden. Auf Grund dessen können sie sich im ganzen Körper zwischen den größeren Atomen von Fleisch, Knochen oder Blut verteilen. Mit dem Tod des Menschen werden sich die Atome seines Körpers wieder verteilen und allenfalls neu formieren. Da das auch für die Atome seiner Seele gilt, gibt es kein Leben nach dem Tod – und somit keine Bestrafung oder Belohnung in einem Jenseits. Also wird auch eine Angst davor hinfällig und mit ihr die Angst vor dem Tod. Außerdem wird auch ein Streben nach Ruhm im Diesseits oder ein Streben nach einen Nachruhm in späteren Generationen für die Epikureer hinfällig durch den Umstand, dass die Welt, in der wir diesen Nachruhm vorweisen könnten, eines Tages zu Grunde geht – und mit ihr der Nachruhm.
Wenn also Buch 1 und 2 die atomistische Naturlehre und Buch 3 die Vergänglichkeit der Seele und eine Widerlegung der Todesfurcht enthalten, wird Lukrez mit jedem folgenden Buch konkreter. Buch 4 enthält, grob gesagt, eine Wahrnehmungs- und Affektenlehre. Beide berufen sich natürlich auf die atomistische Kosmologie, so dass Lukrez‘ Epistemologie sensualistisch-empiristisch ausfällt und er in der Ethik Epikurs Ideal der Ataraxie vertritt, der gelassenen Lust, die darauf beruht, dass man den notwendigen Trieben zwar nachgibt, also sie nicht (wie die Stoiker es preisen, unterdrückt), sie aber nicht maßlos übertreibt. Notwendig ist aber im Grunde genommen nur, was den menschlichen Körper am Leben erhält und der Fortpflanzung dient. Man soll also mit Lust essen und trinken, aber keine Völlerei betreiben. Ebenso ist Sexualität als solche bei Lukrez positiv gewertet; sich dafür aber auf eine bestimmte Person zu kaprizieren (was man sonst „romantische Liebe“ nennt), ist bereits ein Laster und daher zu vermeiden. Götter – nebenbei – gibt es zwar für Lukrez, aber sie leben in einer eigenen Welt, die die der Menschen kaum berührt. Deshalb ist es zwar nicht verwerflich, wenn der Mensch die Götter um irgendetwas bittet oder anfleht – es ist ganz einfach sinnlos. Auch haben ja nicht die Götter die Erde gebildet, nicht die Götter den Menschen gebildet, nicht die Götter dem Menschen den Genuss von Wein oder den Anbau von Getreide gelehrt – über diesen Glauben macht sich Lukrez sogar diskret lustig. Die Unabhängigkeit von Göttern gilt auch für die Kultur- und Staatenbildung der Menschen.
Lukrez wendet sich auch gegen den Determinismus der Stoa. Weder die Götter, die sich ja überhaupt nicht um unsere Welt kümmern, noch die Atome haben direkten Einfluss auf das, was in der Welt geschieht. Vor allem der Mensch ist für Lukrez durchaus mit freiem Willen begabt. (Nämlich weil die Atome, die im Regelfall alle schön miteinander senkrecht nach unten fallen – wie genau man sich das vorstellen muss, hat Lukrez (anders als im Fall des leeren Raums, den wir uns zwischen den Atomen vorstellen müssen, wenn wir Bewegung in der Welt haben wollen) aber nicht ausgeführt – weil die Atome also das eine oder andere ungerade Mal ein kleines Bisschen von ihrem geraden Weg abkommen und mit anderen Atomen kollidieren, kommen Unregelmäßigkeiten und damit der freie Wille in die Welt.)
Dass man in den antiken Atomisten Vorläufer der modernen Physik gesehen haben will, beruht auf einem Missverständnis. Auch wenn sich Lukrez darüber lustig macht, dass andere Naturphilosophen als Ur-Elemente Feuer, Wasser, Luft oder Erde annehmen und fragt, wie das möglich sein soll, so darf man nicht vergessen, dass antike Naturphilosophie nicht auf tatsächlicher Forschung beruht, sondern immer Theoriebildung ex nihilo war. Das fällt vor allem im letzten Buch auf, wo sich Lukrez konkreten Phänomenen zuwendet wie Blitz und Donner oder auch Wolken und Regen, und wo er zwar eine atomistische Erklärung solcher Naturphänomene versucht, aber auch nichts Besseres vorzuweisen hat, als die anderen philosophischen Schulen. Den Abschluss macht dann ein Ausflug in die Medizin, mit einer Schilderung der verheerenden Seuche, die Athen im peloponnesischen Krieg heimgesucht hatte. (Diese Schilderung ist natürlich nicht von Epikur übernommen, sondern – abermals fast wörtlich übersetzt – von Thukydides.)
Das ganze Werk ist – sehr unepikureisch, nebenbei gesagt – in Versen, und zwar in Hexametern, verfasst. Hier hat Lukrez für einmal die Freude am Unnützen (nämlich einem ästhetischen Erlebnis der Sprache) vor das epikureische Credo gestellt, das solches zu vermeiden rät. Sogar Cicero, selbst ein großer Stilist vor dem Herrn, hat in einem Brief zwar den Inhalt des Gedichts verdammt, konnte aber dann doch nicht anders, als dessen elegante Sprache loben. Dieser Brief ist auch so ziemlich das einzige Zeugnis, das wir haben, um Lukrez‘ Lebenszeit festzulegen. Hierin nämlich war er wiederum ein echter Epikureer und folgte der Weisung des Meisters, ein unauffälliges Leben zu führen.
Alles in allem eine auch jenseits allen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Interesses empfehlenswerte Lektüre.