Voltaire: Philosophisches Taschenwörterbuch [Dictionnaire philosophique, portatif]

Wie es heute damit steht, weiß ich, offen gesagt, gar nicht so genau. Zu jener Zeit, als ich mich noch intensiver mit Voltaire beschäftigt hatte – ’s ist zugegeben mehr als nur ein paar Jährchen her –, war es ja so, dass es keine wirklich brauchbare Ausgabe seiner Werke auf dem Markt gab. Nicht einmal für gutes Geld, nicht einmal auf Französisch. Dass es im 21. Jahrhundert nun eine neue Ausgabe gibt, die sich aber auch ’nur‘ Gesammelte Werke nennt, zeigt eines der Hauptprobleme einer solchen Voltaire-Ausgabe: Der gute Mann hat einen hohen Jahresausstoß gehabt, wurde über 83 Jahre alt und hat vieles anonym veröffentlicht. Nur schon alles zu finden, ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit.

Ebenfalls zu jener Zeit, als ich mich noch intensiver mit Voltaire beschäftigt hatte – und ’s ist zugegeben immer noch mehr als nur ein paar Jährchen her –, war es auch so, dass es vom Dictionnaire philosophique, portatif keine befriedigende Übersetzung ins Deutsche gab. Das Werk war nicht einmal komplett übersetzt. Zu gefährlich schienen offenbar den deutschen Verlagen noch bis weit übers 20. Jahrhundert hinaus Voltaires Ausritte gegen die Kirche und Christentum. Zumindest dies, eine komplette deutsche Übersetzung, hat der Reclam-Verlag letztes Jahr endlich nachgeholt. (Voltaire hat sein Wörterbuch nach der ersten Auflage weiter bearbeitet – was wir hier vor uns haben, ist die Übersetzung der ersten Auflage. Spätere Auflagen wurden durch Voltaires Hinzufügungen derart groß, dass der Ausdruck portatif (tragbar) schon fast selbstironisch wurde.)

Warum überhaupt dieses Werk? Voltaire gibt im Originaltitel bereits einen Hinweis darauf, wenn er das Wort portatif vom Dictionnaire philosophique mit einem Komma trennt. Was bisher von Seiten der Aufklärer auf Französisch an Wörterbüchern und Enzyklopädien erschienen war, wies seiner Meinung nach einen großen Mangel auf: Die Werke waren zu dick. Man konnte sie allenfalls in einer Bibliothek studieren, und selbst dann würde man wohl eher mal kurz einen Artikel lesen und das Buch dann wieder ins Regal stellen. Aber ein Buch, das belehren soll, muss nach Voltaires Meinung eines sein, das ich immer bei mir haben und überall konsultieren kann. Deshalb nicht nur ein Wörterbuch, nicht nur ein philosophisches Wörterbuch, sondern vor allem ein (umher) tragbares Wörterbuch sollte es werden. (Leider verschleift der deutsche Titel Voltaires Intention, denn das Taschenbuch im heutigen Sinn – Klebebindung, weicher Pappdeckel (vulgo: Paperback) – gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert. Und das meinte Voltaire sicher nicht, schon weil er es ja gar nicht kennen konnte. Abgesehen davonn, dass ein „Taschenwörterbuch“ zumindest theoretisch auch aus mehreren Bänden bestehen kann und dann nicht mehr als Ganzes „tragbar“ ist.)

Das vorliegende Taschenwörterbuch (ich behalte den Begriff aus Bequemlichkeit bei) weist 73 Artikel auf. Das Ganze ist bei allem Charakter eines Nachschlagewerks durchaus eine Kampfschrift, auch als solche intendiert. Immer und immer wieder attackiert Voltaire darin die (monotheistischen) Religionen – allen voran das Christentum – und die (christlichen) Kirchen. Wobei man wissen muss: Im Artikel Atheismus macht Voltaire klar, dass er nicht den Glauben an einen Gott als solchen zurückweist. Im Gegenteil: Er vertritt darin die damals übliche Meinung, dass ein Atheist nicht in der Lage wäre, moralisch hochstehend zu sein und zu handeln. Aber was das Dogma und die Theologie – also die Priester – aus dem (christlichen) Glauben konstruiert haben, stößt ihn ab.

Voltaire wendet für seine Kritik vor allem zwei Techniken an. Zum einen finden wir die des Versteck-Spiels. Seine schärfsten Angriffe führt Voltaire nicht in jenen Artikeln, in denen wir sie erwarten würden. Der Artikel zum Christentum, zum Beispiel, ist rein historisch abgefasst – jedenfalls auf den ersten Blick (dazu gleich mehr). Auf das Christentum geht Voltaire erst im nächstfolgenden Artikel los, der Convulsions – Zuckungen überschrieben ist. Doch auch dort, wo Voltaire rein beschreibend bzw. historisch vorzugehen scheint, greift er an. Um die Barbarei des Christentums oder des Judentums des Alten Testaments aufzuzeigen, kann er sich mit einer Aufzählung von Abschlachtungen oder Hinrichtungen begnügen, die im Namen Gottes oder der Kirche begangen wurden. Oder er weist auf Widersprüche zwischen unterschiedlichen biblischen oder dogmatischen Texten hin, die von der offiziellen Kirche stillschweigend ausgebügelt oder auch gleich ganz unter den Tisch gekehrt werden. (Auch ein Vierteljahrtausend später kann die Bibel- und Dogmenkritik des 21. Jahrhunderts nicht mehr tun – insofern bewundere und bedauere ich diese modernen Kritiker gleichzeitig. Sie unternehmen eine Arbeit, die im Grunde genommen seit Voltaire getan ist – denn eine Schrecklichkeit mehr oder weniger, ein Widerspruch mehr oder weniger, spielen fürs Prinzip wirklich keine Rolle mehr, wenn man zum Beispiel den archaischen und brutalen Charakter der so genannten Heiligen Schrift beweisen will oder Widersprüche in den Schriften der Kirchenväter und der Scholastiker.)

Voltaire, ich habe es schon gesagt, schrieb viel. Und deshalb schnell. Und deshalb sind seine Werke von höchst unterschiedlicher Qualität. Das gilt selbst für die Stichworte innerhalb dieses Buchs. Damit muss man leben. Aber auch so ist es noch immer ein Text, den man (wenn auch das Format der deutschen Ausgabe für ein Taschenbuch zu groß ist – und das bei Reclam!) mit mehr als nur historischem Interesse durchlesen wird.


Voltaire: Philosophisches Taschenwörterbuch. Nach der Erstausgabe von 1764 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt von Angelika Oppenheimer. Nachwort von Louis Moland. Herausgegeben von Rainer Bauer. Ditzingen: Reclam, 2020.

1 Reply to “Voltaire: Philosophisches Taschenwörterbuch [Dictionnaire philosophique, portatif]”

  1. Mal wieder ein bisschen Klugscheißerei: Das Paperback – also ein Buch mit Pappumschlag und Klebebindung – ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die Nachfrage nach “Uncle Tom’s Cabin” ist wohl so hoch gewesen, dass tatsächlich auch minderwertig hergestellte Broschuren verkauft werden konnten. Damals wurde das Paperback erfunden. Das heute in der *Holzverarbeitung* verwendete Lumbecken ist allerdings ein Verfahren des 20. Jahrhunderts. Und das deutsche „Taschenbuch“ muss übrigens *buchhändlerisch* eine weitere Bedingung erfüllen, um ein solches zu sein: Es ist eine Broschur, die in einer Reihe erscheint und mithin eine Reihennummer trägt. (Wurde jedenfalls in meiner Ausbildung so gelehrt.)

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