1844 ist Charles Dickens bereits ein in seiner Heimat berühmter Schriftsteller. Um dem Rummel auszuweichen, seine Ruhe zu haben und seinen nächsten Roman schreiben zu können, beschließt er, im Sommer mit der ganzen Familie für ein Jahr nach Italien zu ziehen. Er mietet sich für diese Zeitdauer in einem Palazzo in Genua ein. Dass aus dem Roman wird trotzdem nichts geworden ist, liegt vielleicht daran, dass auch aus der geplanten Ruhe nichts geworden ist.
Zwar war es keineswegs so, dass ihm seine Fans nach Italien gefolgt wären und ihn auch dort belästigt hätten, aber Dickens selber kann offenbar keine Ruhe geben. Er bleibt nämlich nicht einfach in Genua, sondern reist in ganz Italien herum. Das Königreich beider Sizilien (Neapel!) stellt den südlichsten Punkt seiner Reisen in Italien dar, Venedig und Mailand sind die nördlichsten. Natürlich sieht er auch Rom und Florenz. Zwischendurch kehrt er sogar in Verlagsangelegenheiten nach London zurück. Während er auf der Hinreise die klassische Route aller Engländer genommen hat und Frankreich von Norden nach Süden an die Riviera durchquerte, danach mit dem Schiff nach Genua übersetzte, nimmt er auf seiner Verlagstour den Weg von Mailand durch die Schweiz. Wir wissen das alles, weil er zwar in Italien keinen Roman geschrieben hat, aber ein Buch mit seinen Erinnerungen an seinen Aufenthalt dort.
Und weil er über Frankreich anreiste, für eine kurze Zeit über die Schweiz nach London zurückkehrte, kommt es, dass in diesen, in meiner Übersetzung Italienischen Reise genannten Erinnerungen zunächst, also in den ersten Kapiteln, über Frankreich berichtet wird, und dass er ein halbes Kapitel eingefügt hat über die Schweiz. Sein Bericht über die Schweiz ist allerdings recht speziell ausgefallen:
Da diese Arbeit es nur mit meinen italienischen Erinnerungen zu tun hat, und da es meine Pflicht ist, so schnell wie möglich dorthin zurückzukehren, so will ich mich nicht weiter darüber auslassen, wie die Schweizer Dörfer gleich Spielzeug um den Fuß der riesigen Berge gelagert oder wie merkwürdig die Häuser übereinandergetürmt waren, und welch enge Straßen es dort gab, die vor den heulenden Winterstürmen schützten. Oder die eingestürzten Brücken […]
Oder … oder … oder … so geht ein halbes Kapitel lang weiter.
Beeindruckend ist noch ein Bericht über eine Oster-Feier, die Dickens in Italien erlebt (während Weihnachten recht unspektakulär verlaufen zu sein scheint), aber im Großen und Ganzen ist der Engländer während seiner Zeit in Italien ein Tourist geblieben, der mehr oder weniger den üblichen Sehenswürdigkeiten folgt. Dazu gehörte zwar – für einen englischen Schriftsteller wohl ein obligates Ziel – das Haus, in dem Julia gewohnt und von Romeo verehrt worden sein soll. Gemälde werden ebenfalls betrachtet, aber kaum geschildert. Hier ist Dickens am wenigsten Tourist, indem er auf die üblichen Schilderungen und Einordnungen der Bilder und der Maler explizit verzichtet. Aber ansonsten wird man sagen müssen, dass er auch nach einem Jahr Land und Leute immer noch durch die Brille des Fremden, nur temporär Anwesenden, betrachtet, dem vor allem auffällt, was völlig anders ist als zu Hause oder was – wider Erwarten – genau gleich ist wie dort. Er bleibt mit anderen Worten ein Jahr lang Tourist.
PS. Auf dem Schutzumschlag meiner Ausgabe ist ein Bild von Carl Spitzweg reproduziert: Engländer in der Campagna (die Dickens natürlich auch besucht hatte) von 1835. Bei den abgebildeten Personen kann es sich also noch nicht um Dickens und seine Familie gehandelt haben. Aber so ähnlich wie diese Engländer auf Spitzwegs Bild müssen wir uns die Familie Dickens in Italien vorstellen, denn auch sie hatte für ein Jahr einen Führer und Reiseleiter gemietet, der ihnen alles organisierte und vor Ort erklärte.