Elternhaus ist hier gemeint aus der Sicht Johann Wolfgang Goethes. Und auch so ist der Begriff im weitest möglichen Sinn zu verstehen. Da ist die Tatsache, dass – wie aus den im Titel dieses Aperçu aufgeführten Autorennamen ja schon hervorgeht – nicht nur die Briefe der beiden Eltern Johann Wolfgangs (also Johann Caspars und Catharina Elisabeth Goethes) figurieren, sondern auch die seiner Schwester Cornelia. (Wahrscheinlich unter dem Einfluss der umgangssprachlichen Redewendung, Wolfgang habe das Elternhaus verlassen, um in Leipzig zu studieren, während seine Schwester in eben diesem Elternhaus geblieben sei. Was, nebenbei gesagt, im ausgehenden 18. Jahrhundert noch durchaus das Schicksal gutbürgerlicher Töchter war: sie blieben so lange im Elternhaus, bis sie verheiratet waren. Dann wurden sie selber Mutter und hatten für den Gatten und die Kinder ein neues ‚Elternhaus‘ zu besorgen. Falls das mit der Heirat nicht klappte, blieben sie im angestammten Elternhaus und sorgten für die greisen Vater und Mutter bis zu deren Tod. Danach ging das Elternhaus an den Sohn, so vorhanden, an einen anderen männlichen Erben im sonstigen Fall, und die alte Jungfer von Tochter wurde in ein Stift gesteckt.) Es sind, um wieder zum Inhalt des Buchs zurück zu finden, hier auch nicht nur die Briefe enthalten, die Johann Caspar, Catharina Elisabeth und Cornelia an Wolfgang geschrieben haben. Es enthält auch, im Falle Cornelias, Ausschnitte aus ihrem geheimen Tagebuch – das nur insofern geheim war, als die Eltern es nicht sehen durften: Sie schickte diese Ausschnitte regelmäßig an ihre engsten Freundinnen; es erfüllte also durchaus Brieffunktion. Was bereits zum letzten Punkt führt: Dieses Buch enthält alle überlieferten Briefe der drei Frankfurter, nicht nur die an Wolfgang, nicht nur die aus der Zeit im Haus am Großen Hirschengraben. Wären es nur die an den Sohn bzw. Bruder, wäre das Buch nicht halb so umfangreich geworden, denn Johann Wolfgang hat in seinem Leben zu verschiedenen Malen eine Art Autodafé durchgeführt und Briefe aus vergangenen, seiner Meinung nach von ihm jetzt überwundenen Epochen verbrannt. Dem alten, sich selber historisch gewordenen Autor tat das oft leid – was ihn nicht daran hinderte, als ihm von einem verstorbenen Jugendfreund seine Jugendbriefe übermacht worden waren, eben diese dennoch zu verbrennen und sich am Farbenspiel der Flammen zu erfreuen.
Die Reihenfolge der Autoren im Titel entspricht dem Umfang des publizierten Briefwechsels. Von Goethes Vater Johann Caspar ist am wenigsten überliefert, von der Schwester Cornelia nur unwesentlich mehr, am meisten aber von seiner Mutter. Auch qualitativ ist dieser letzte Teil sicher der beste und interessanteste. Johann Caspar ist in seinen paar Briefen noch völlig den barocken Konventionen der Briefstellerei verhaftet; Cornelias Ergüsse drehen sich vorwiegend um ihre Schwärmerei zu einem jungen Engländer, der Frankfurt besuchte. Nur die Mutter kommt im Lauf ihres Lebens mit der Welt in Kontakt. Natürlich gibt es auch die Familienbriefe, vor allem an ihre Enkel, die sind, was großmütterliche Briefe halt so sind: Ausdruck von (wohl echt empfundener) Freude über deren selber gebastelte Weihnachtsgeschenke oder deren Fortschritte im Lernen. Aber sie schreibt auch an Lavater, Klinger, Lenz, Merck oder Wieland. Sie schreibt Briefe an Anna Amalia in Weimar, die zwischen Freundschaft einerseits, Zurückhaltung gegenüber einer adligen Landesmutter andererseits schwanken. Sogar den regierenden Fürsten Carl August finden wir unter ihren Briefpartnern. Seidel muss zum Beginn von dessen Aufenthalt in Weimar zumindest einen indirekten Kontakt zum Sohn Wolfgang aufrecht erhalten; später werden sein Bettschatz Christiane und sein Sohn August diese Rolle übernehmen. An die Göchhausen schreibt Catharina Elisabeth in der Du-Form. Und in gereimten Versen. Zwischendurch, als Catharina Elisabeths Interesse am Frankfurter Schauspielhaus auf dem Gipfel steht, sind es vor allem Briefe an bekannte Schauspieler der Epoche, die den Hauptharst des Konvoluts ausmachen. Und am Ende ihres Lebens natürlich noch Bettina Brentano.
Das Ganze wird eingeleitet mit drei Essays von Ernst Beutler, die eigentlich drei Kurzbiografien von Johann Caspar, Cornelia und Catharina Elisabeth darstellen. Seltsamerweise ist es hier so, dass, je weniger Briefe von einer dieser Personen überliefert sind, desto länger die Biografie ausfällt. Auch hat Beutler die Eigenschaft, sich zu Nebenfiguren und Nebenumständen ausführlichst auszulassen, bis man beinahe den Faden der eigentlichen Biografie verliert. Am Schluss des Buchs beschreibt er noch das in den 1950ern gerade frisch wieder aufgebaute Goethe-Haus am Großen Hirschengraben in Frankfurt – an dieser Arbeit war er ja federführend beteiligt gewesen.
Alles in allem nicht einmal so sehr für Goethe-Fans (für solche auch), sondern mehr für an der Geschichte des Bürgertums im Übergang von Barock / Rokoko zum Klassizismus und Biedermeier Interessierte.
Johann Caspar Goethe / Cornelia Goethe / Catharina Elisabeth Goethe: Briefe aus dem Elternhaus. Erweiterte Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben und mit drei Essay eingeleitet von Ernst Beutler. Frankfurt/M, Leipzig: Insel, 1997. (= insel taschenbuch 1850)