C. F. Ramuz: Derborence

Derborence ist heute ein Naturschutzgebiet. Es liegt im Kanton Wallis, im französischsprachigen Teil, aber nahe an der Grenze zum deutschsprachigen Oberwallis. Es war aber nicht immer diese karge Wüste von riesigen Felsbrocken, die wir heute finden, kaum durchsetzt von ein paar Nadelbäumen und hin und wieder einem kleinen Fleck Wiese, auf der gerade mal ein paar Schafe weiden können. Es war einmal eine regelmäßig genutzte Alp, das heißt, eine Hochwiese, eine Sommerweide, auf die die Bauern der umliegenden Dörfer im Sommer für einen oder zwei Monate zogen, damit ihre Kühe vom dortigen Gras sich fett fressen konnten. Butter wurde dort oben hergestellt, und Käse. Es gibt noch viele solcher Alpe, und der Alpaufzug im Frühsommer bzw. der Alpabzug im Frühherbst sind an vielen Orten touristische Events geworden. Nicht so bei Derborence. Schuld daran ist ein Bergsturz, der Teile der Diablerets bis weit hinunter rollen liess. Der Bergsturz fand 1714 statt, und er stellt den Hintergrund dar, und gleichzeitig einen der Hauptakteure, in C. F. Ramuz‘ Roman von 1934.

Wobei ich gleich eine Warnung aussprechen möchte: Ramuz hat keinen historischen Roman geschrieben im heutigen Verständnis des Begriffs. (Er hat zum Beispiel, um den Spannungsbogen halten zu können, den Bergsturz vom Nachmittag in die Nacht verlegt.) Noch viel wichtiger: Ramuz hat auch keinen Heimatroman verfasst, auch wenn er – geopolitisch gesehen – aus der gleichen Region stammte. Ramuz‘ Thema ist die Konfrontation des Menschen mit der (unerbittlichen) Natur. Schon im Normalfall war das Leben der Bauern in jenen Seitentälern der Rhone, die das Wallis bilden, kein einfaches. Im Angesicht einer Katastrophe aber …

Derborence erzählt, neben der Geschichte des Bergsturzes, die Geschichte von Antoine und Thérèse. Die beiden konnten endlich heiraten, nachdem Philomèle, Thérèses Mutter (der Vater ist bereits tot), lange Widerstand geleistet hatte. Sie haben das Séraphin zu verdanken, der seine Schwester Philomèle umgestimmt hat. Kaum verheiratet aber muss Antoine, wie alle arbeitsfähigen Männer des Dorfs, auf die Alp ziehen. Er teilt sich Arbeit und Hütte mit eben diesem Séraphin, verspürt oben aber nur Sehnsucht nach ihr; sie sehnt sich unten nach ihm. Er freut sich bereits darauf, am nächsten Tag, zumindest für 24 Stunden, wieder im Tal bei ihr sein zu können. Dann kommt der Bergsturz, der alles ändert. Die Schilderung des Bergsturzes erfolgt aus der Sicht der Talbewohner; der Leser erfährt selber erst nach und nach, was geschehen ist – so, wie eben auch die Bewohner sich erst das Geschehen zusammen reimen müssen. Zunächst sieht es so aus, als hätten nur zwei Leute den Bergsturz überlebt: ein Junge, der sich in jenem Moment ganz an dessen Peripherie aufhielt, und ein Erwachsener, der aber, schwer verletzt, noch auf dem Transport ins Tal stirbt. Doch sieben, fast acht Wochen später taucht noch einer auf. Kreideweiß, dreckig, abgemagert und in zerfetzten Kleidern. Die Abergläubischen im Dorf – und wer war zu jener Zeit in diesen Dörfern nicht abergläubisch? – hielten ihn zunächst für einen Geist, einen Wiedergänger. Das geht zwar vorbei, kaum aber denkt der Leser, Antoine habe sich nach Anlaufschwierigkeiten abermals ins Dorf integriert, das Dorf ihn wieder absorbiert, da verschwindet er auch schon wieder. Er will nochmals hinauf zur Derborence, denn er ist sicher, dass Séraphin noch lebt und ihn gerufen hat. Kaum einer traut sich zu ihm hinauf, und die, die sich trauen, können ihn nicht überzeugen, zurück zu kommen. Da macht sich Thérèse auf, ihren Mann und den Vater des Kindes, das sie in sich wachsen spürt, zurück zu holen. (Aber nein: Das Ganze ist auch kein Liebesroman. Oder vielleicht müsste man sagen: Es ist Heimat-, Liebes- und historischer Roman in einem. Und es ist viel mehr.)

Dass es viel mehr ist, dass es einer der großen Romane der Weltliteratur ist, liegt mutatis mutandis an den selben Gründen, die von mir schon für den neun Jahre früher erschienen Roman Die große Angst in den Bergen angeführt wurden. Auch hier haben wir ein Strafgericht (was an die Romane Gotthelfs erinnert, aber, da wir bei Ramuz keinen strafenden Gott haben, gar keinen Gott haben, anderes ist, mehr ist: archaisch in einem positiven Sinn). Wir haben die ‚kubistische‘ Erzählweise, die ich bei meiner damaligen Besprechung angeführt habe, wenn auch weniger demonstrativ. Wir haben einen Erzähler, der einmal rein auktoriell arbeitet, ein anderes Mal – immer noch in der dritten Person – die Gedanken von Thérèse wiedergibt. Der Wechsel kann mitten in einem Abschnitt sein. (Übrigens ist Thérèse die einzige, deren Gedanken wir erfahren – mit der signifikanten Ausnahme von Antoine in jenem Moment, als er gerade frisch aus dem Untergrund seiner eingestürzten Berghütte krabbelt.)

Als Gymnasiast bin ich an diesem Roman gescheitert; heute kann ich eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen.


Der Limmat-Verlag hat dieses Jahr (2021) seine Ausgabe in der Übersetzung von Hanno Helbling (der auch Die große Angst in den Bergen übersetzt hatte) wieder herausgegeben, als hübschen Leinenband. Der Umschlag zeigt einen Ausschnitt aus dem Ölbild Derborence 2018 von Elisabeth Strässle. [Ich finde es ja auch einmal schön, müssen ‚Klassiker‘ nicht immer in neuen Übersetzungen erscheinen und angepriesen werden. Zumal, wenn eine bestehende, so, wie hier, durchaus den Geist des Originals wiederzugeben in der Lage ist.]

Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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