Hermann Ebbinghaus: Über das Gedächtnis

Ebbinghaus’ Untersuchungen zum Gedächtnis aus dem Jahre 1885 sind von den Forschungsresultaten her unterdessen wohl veraltet. Außerdem zeichnen sie sich durch aus heutiger Sicht gravierende methodologische Fehler aus. Der schwerwiegendste davon ist wohl der, dass der Versuchsleiter zugleich auch das Versuchskaninchen war – und das einzige noch dazu. Aber – und das ist der Grund, warum die Wissenschaftliche Buchgesellschaft den Text seinerzeit (1992) in ihrer Reihe Bibliothek klassischer Texte publizierte – er betrat bei aller methodologischer Fehlerhaftigkeit ebensolches Neuland. Denn hier wurde (praktisch zum ersten Mal in der Geschichte der Psychologie) die Forschungsmethode der Naturwissenschaften auf eine bisher als typische Geisteswissenschaft geltende Disziplin angewendet. (Wobei der Begriff der „Geisteswissenschaft“ später entstand.) Praktisch zum ersten Mal in der Geschichte der Psychologie versuchte hier ein Forscher, mit Messungen, mit dem Aufstellen von Versuchs- und Messreihen und mit genau definierten, im Prinzip von jedem andern Forscher wiederholbaren Versuchsanordnungen zu bestimmen, wie das Gedächtnis funktionierte. Ebbinghaus war in seiner Forschung zwar von Fechner angeregt worden, legte aber als erster fest, dass einzig möglichst neutrale und immer gleich bleibende Versuchsanordnungen Aufschluss geben könnten darüber, wie das menschliche Gedächtnis befüllt werde. So beschränkte er sich auf das Auswendiglernen als einer gut reproduzierbaren Tätigkeit: Wie oft musste der Proband einen Text lesen, bis er ihn korrekt auswendig wiedergeben konnte? Selbst so verwarf Ebbinghaus das Auswendiglernen von ‘sinnvollem’ Text (obwohl er eine Zeitlang das Lernen von Versen aus Manfred von Byron zumindest als Gegenbeispiel mit einbezog). Er formte aus verschiedenen Konsonanten und Vokalen sinnlose Silben. Einzig für eine deutsche Zunge allzu seltsame oder schwierige Kombinationen verwarf er. Diese Silben fügte er nach dem Zufallsprinzip aneinander, bis er Reihen von 12 oder 16 sinnlosen Silben vor sich hatte. Diese wiederum musste der Proband lesen, und es wurde gemessen, wie oft er sie lesen musste, bis er sie korrekt wiedergab, und wie lange es dauerte. Zufällige Ausreißer wurden dadurch eliminiert, dass Ebbinghaus ganze Versuchsreihen bildete und die Resultate statistisch auswertete. Dies – der Einbezug von Mathematik und Statistik – war etwas in der Psychologie bis dato Unerhörtes, und Ebbinghaus gründete damit de facto die experimentelle Psychologie als wissenschaftliches Fach. Wenn also auch die Resultate seiner Forschungen im Einzelfall angezweifelt werden dürfen, so ist die angewandte Methode im Prinzip bis heute gültig und der kurze Text bis heute lesenswert.

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