Bei Gonçalo M. Tavares handelt es sich um einen der bekanntesten portugiesischen Autoren der Gegenwart. Er gliedert seine Literatur gerne in Reihen, die gewisse inhaltliche oder kompositorische Strukturen gemeinsam haben. Die bisher umfangreichste und längste davon nannte er O Bairro, das heißt: Das Stadtviertel. Dieses fiktive Stadtviertel bevölkert Gonçalo M. Tavares sukzessive mit bekannten Personen der Literaturgeschichte. Diese Reihe läuft seit 2002, das letzte Buch darin ist aktuell 2010 erschienen; seit 2020 erscheinen nun auch deutsche Übersetzungen.
So etwas birgt etwelche Gefahren in sich – vor allem die der Epigonalität oder der bloßen (und meist schlechten!) Parodie. Zumindest in diesem Buch hier ist das aber nicht der Fall. Es hat aber auch mit O Bairro direkt nichts zu tun, auch wenn ein gewisser Franz Kafka eine wichtige Rolle darin spielt. Um genau zu sein, ist es eine Fotografie von Kafka; noch genauer: ein schlechtes Ölbild nach einer Fotografie. Im Jahr 2006 schleppte Gonçalo M. Tavares dieses Bild mit in die USA (denn das ist das Amerika des Titels). Ausgehend von Los Angeles durchquert er die Staaten im Süden, bis er in Florida eintrifft. Seine Reisenotizen gleichen manchmal Tagebucheinträgen, in denen er scheinbar wahllos Reiseerlebnisse, Träume und andere Reminiszenzen eingetragen hat; manchmal haben wir auch größere oder kleinere Essays vor uns – oft surrealistisch angehauchte. Gonçalo M. Tavares wird begleitet von Jonathan, dessen Nachnamen wir nie erfahren. Ja, je länger der Text geht, um so mehr erwachsen in den Lesenden Zweifel, ob es diesen Jonathan überhaupt in der Realität gibt, oder ob es sich hier um einen fiktiven Reisebegleiter handelt.
Das Buch ist mit Farbfotografien illustriert, die Kafka (bzw. eben sein Bild) zeigen, wie er in Supermärkten in Regale gestellt wird, in einer Autobahnraststätte (denn Gonçalo M. Tavares, Jonathan und Kafka fahren mit dem Auto) auf einen Stuhl gelegt oder an einen Kaugummiautomaten gelehnt wird. Er wird in die Kamera gehoben, die einen Raketenstart auf Cape Canaveral fotografiert – von der Rakete sieht man einen schwachen roten Punkt im rechten Bildteil. Den größeren Teil des Bildes nimmt Kafka ein. Einmal, in einer Art Nebenrolle, gesellt sich auch ein gleichermaßen entstandenes Porträt von Federico García Lorca zu ihm; aber Kafka scheint dem Autor wichtiger zu sein. Immerhin erinnert er ja schon im Titel an Kafkas frühesten Roman, wie dieser damals von Max Brod getauft wurde, den aber Kafka selber Der Verschollene genannt hatte.
Nomen est omen bei Gonçalo M. Tavares. In diesem „Reisebericht“ gibt es auch Verschollene. Jede Menge sogar. Die Menschen nämlich. Es kommen selten Menschen vor – und wenn, dann oft in Träumen. Echte Menschen, Einheimische oder andere Touristen, scheint es in Tavares‘ Amerika kaum zu geben. Durch diesen Kunstgriff wird die Lektüre des Büchleins je länger, desto bedrückender. Es ist eine Art Straße von Cormac McCarthy. Nur, dass es bei Gonçalo M. Tavares noch Natur gibt – wenn auch vom Menschen einvernahmte. Und es gibt auch jede Menge Supermärkte mit Konserven für die Menschen, die dann aber wiederum fehlen. Es gibt Raketen, die in den Weltraum fliegen – aber der Techniker, den Tavares und Jonathan kennen lernen, ist ein Ex-Techniker, der sich nun damit amüsiert, in Kunstwerken des Mittelalters und der Renaissance moderne Boings in den Himmel zu malen oder Raketen. Denn seine Raketen liebte er, wie andere ihre Haustiere.
Ein ander Mal entpuppt sich Jonathan als eine Art Cyborg. Am Tor eines Vergnügungsparks werden er und Tavares gebeten, alle Prothesen abzuschnallen. Jonathan kommt dem nach und zieht zuerst sein rechtes, dann sein linkes Bein aus. Danach demontiert er seine Ohren – inklusive Gehörgang, zuletzt auch das Hirn. Abermals ist es ein Alptraum, aber abermals ist dieser bezeichnend für die Stimmung des kleinen Büchleins. (Und ja: Ich denke schon, dass Tavares seine Klassiker kennt – auch die der Schauerromantik. Denn hier hat ganz offensichtlich Edgar Allan Poes The Man Who Was Used Up Pate gestanden.)
Wenn wir darin Menschen kennen lernen, sind sie kafkaesk verschroben. Aber im Grunde genommen ist Gonçalo M. Tavares alleine unterwegs – in einer Welt voller Technik und voller kapitalistischer Konsumgüter. So viel davon in der Tat, dass Tavares und der wohl imaginäre Jonathan sogar Alpträume träumen von alles wissenden, alles könnenden Maschinen. Oder manchmal sind es auch keine Alpträume, sondern einfach seltsame Ideen, die sie zusammen spintisieren. Kafka ist – wenn auch in der ‚Realität‘ des Textes nur als schlechte Kopie einer Kopie – im kapitalistischen 21. Jahrhundert angekommen, und den Leser gruselt’s.
Gonçalo M. Tavares: „In Amerika“, sagte Jonathan. Aus dem Portugiesischen von Christiane Quandt und Frank Henseleit. Köln: Kupido Literaturverlag, 2021.
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
1 Reply to “Gonçalo M. Tavares: „In Amerika“, sagte Jonathan”