Doktor Johannes Faust (Puppenspiel)

Der Titel des vorliegenden kleinen Büchleins*), jedenfalls auf dem Umschlag (Doktor Johannes Faust. Puppenspiel), ist ein wenig irreführend. Denn es gab nicht dasPuppenspiel – es gab viele Puppenspiele, die sich zwar alle ähnelten, aber dennoch immer unterschiedlich waren. Und was hier nun vor uns liegt – aber darauf komme ich noch.

Seinen Ursprung, so weit wir das nachvollziehen können, nahm der Mythos des Faust im irrig so genannten Volksbuch, der Historia von D. Johann Fausten. Dieses Buch erschien Ende des 16. Jahrhunderts und war ein sofortiger Erfolg. Es ging dann auch ebenso rasch vergessen – vorher aber hatte es noch in einer Übersetzung den Weg nach England gefunden. Diese Übersetzung fiel dem großen Konkurrenten Shakespeares in die Hände, Christopher Marlowe. Das Beispiel eines schlechten, weil von Hybris geschlagenen Menschen der Historia erwuchs in Marlowes Tragicall History of the Life and Death of Dr Faustus zum tragische Renaissance-Menschen, der wissen wollte, was zu wissen nicht sein Ding war. Marlowes Drama wurde von vielen zeitgenössischen Schauspieltruppen Englands ins Repertoire übernommen. Tatsächlich gab es damals in England sehr viele solcher Truppen. Zu viele. Um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, wanderten einige aufs europäische Festland aus und wurden dort zu Wandertruppen. Die meisten versuchten ihr Glück im deutschen Sprachraum. Einem (finanziellen) Erfolg aber stand nun nicht nur die andere Sprache der Schauspieler:innen im Weg. Das deutsche Publikum war auch weit weg von der bereits hoch verfeinerten Raffinesse des elisabethanischen, vor allem in London. Die Prinzipale, denen es aufs Überleben ankam und nicht auf hohe Kunst, reagierten rasch. Um sich dem Publikumsgeschmack anzupassen, wurde die lustige Figur des Pickelhärings oder auch Hanswurst eingeführt. Die sprach dann meistens Deutsch, und ihre Rolle bestand zunächst darin, in eingefügten Szenen möglichst witzige, meist mit derbem Sexual- oder Fäkalhumor durchsetzte Reden zu halten. Mehr und mehr wurde die Figur aber in den Ablauf des Stücks integriert; mehr und mehr übernahm sie – wenn auch nicht die nominelle, so doch die faktische Hauptrolle im Stück ein. Auf den Theaterzetteln blieb der Name „Faust“ erhalten, aber das Publikum wusste, dass es vom derben und rebellischen Humor des Pickelhäring unterhalten werden würde. Im Laufe der Jahre wurden die Truppen mit deutschen Schauspieler:innen angefüllt und von deutschen Prinzipalen geführt. Erneut waren es dann ökonomische Zwänge, die dazu führten, dass Marionetten spielten an der Stelle von Menschen aus Fleisch und Blut: Nicht immer und überall war es möglich, die große Bühne aufzuschlagen – die kleine Marionettenbühne fand immer Platz. Und wenn mal jemand aus der Truppe krank wurde oder auch einfach so von der Bühne verschwand, war es jedes Mal schwierig, sofortigen Ersatz zu finden – bei Marionetten konnte ein einziger Mensch auch schon mal zwei Figuren aufs Mal führen. Last but not least war eine solche Marionettenbühne auch rascher abgebaut und eingepackt, wenn wieder einmal die Obrigkeit mit den rebellischen Reden des Pickelhäring unzufrieden war und ihre Büttel schickte, dem unbotmäßigen Treiben ein Ende zu setzen, indem sie die Truppe ins Gefängnis setzten – eine Ehre, der man sich gern durch Flucht entzog.

Faust trat also zusehends vor dem Pickelhäring in den Hintergrund. Das Publikum kannte ja die Geschichte des Doktors – damit ließ sich für die Truppe kein Staat machen, die lockte keine Maus aus ihrem Loch. Aber die Witze des verfressenen und versoffenen Pickelhäring waren jedes Mal neu. Und – ja: doch – ein Interesse bestand an Faust. Nämlich seine Höllenfahrt. Für diese wurde am Schluss des Stücks regelmäßig alles aufgefahren, was die Truppe an Theater- und Pyromechanik aufbieten konnte. Dieses aufwändige Ende war wohl damals für die Leute ähnlich faszinierend, wie heute die Silvesterböller. (Nur, dass sie sich selber solche Sachen gar nicht leisten konnten.)

Das war in etwa der Zustand des Faust-Stoffs, als die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren endgültigen Aufschwung nahm. Die ersten Literaten – allen voran Gottsched und seine Frau – waren dem Treiben des Pickelhäring und seiner Kollegen noch sehr abhold. Kein Wunder, verschonten deren Reden doch die rigiden Regeln folgenden Aufklärer jener Zeit nicht mit ihrem Spott. Noch Mendelssohn sollte seinen Freund Lessing bitten, doch den Faust-Stoff lieber nicht anzufassen, weil mit dem Pickelhäring da doch eine allzu niedrige Gestalt tief verwickelt sei. Lessing, der durchaus den Hanswurst auf der Bühne zu rehabilitieren dachte, war für sein eigenes Stück allerdings klug genug, auf ihn zu verzichten. Er wusste, wo die Grenzen seiner dramatischen Kunst lagen. Doch auch die sich langsam entwickelnde Literaturwissenschaft ließ das Puppenspiel als niedere Trivialität links liegen. Erst die Romantik – im Rückgriff auf Herders Lobpreisung der Volksliteratur (nicht nur des Volkslieds, wie man in germanistischen Seminaren so gern predigt!) – begann zu ahnen, dass dahinter eine zwar andere, aber dennoch eine durchaus ebenbürtige literarische Schaffenskraft und Poetologie steckte. Als dann noch Goethe in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit gestand, dass es als erstes eine Puppenspiel-Aufführung war, die ihn schon als Kind auf den Faust-Stoff aufmerksam gemacht hatte, war die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft geweckt. Zu spät.

Denn die letzten Truppen hatten zwar noch agiert, als Goethes Faust (I) uraufgeführt wurde, aber 1846, als Simrock sein Puppenspiel niederschrieb, waren auch diese Vergangenheit. (Eine literarische Reminiszenz findet sich noch in Theodor Storms Pole Poppenspäler!) Da die Truppen schon lange aus jeweils einer einzigen Familie bestanden, in der die Kinder langsam in die Arbeit der Eltern eingeführt wurden – zunächst kleinere Rollen übernahmen, dann immer größere, bis es die junge Generation war, die eine Aufführung ‚trug‘ –, waren Textbücher (wenn sie je existiert hatten) überflüssig geworden. Man lernte die Rollen, indem man den Älteren zuhörte und immer wieder zuhörte. Film- oder auch nur Tonband-Aufnahmen gab es ja noch nicht, weswegen Simrock seinen Faust aus Erinnerungen an eine lang vergangene Aufführung zusammen setzte – ziemlich frei zusammen setzte, denn er mischte sehr, sehr viel Goethe hinein. So zum Beispiel sind weite Teile seines Puppenspiels in Versen gehalten, was bei den Originalen sicher nicht der Fall war. Andererseits finden wir gar keine Ausfälle gegen die Obrigkeiten (die bei den Aufführungen damals wahrscheinlich sowieso jedes Mal extemporiert waren), und auch der Sexual- und Fäkalhumor des Hanswurst ist bei Simrock sehr, sehr zahm. Man fühlt in allem bereits die Epoche des Biedermeier.

Und der Teufel? Es gibt im Puppenspiel einige davon. Sie streiten manchmal miteinander, und ein gewisser Mephistopheles scheint der schlauste und schnellste von allen zu sein. Allerdings ist auch er nicht schlau oder schnell genug, den Hanswurst fangen zu können. So oft er auch den Versuch unternimmt: Jedes Mal findet der Hanswurst einen Grund, warum er (jetzt gerade) nicht seine Seele verschreiben könne. Und wenn der Grund der ist, dass er als Marionette ja nur ein Stück Holz sei und gar keine Seele habe, dann sehen wir, dass schon das Puppenspiel gern die vierte Wand durchbrach – etwas, das wiederum später von Bertolt Brecht (seinerseits ein großer Freund und Kenner des alten Volkstheaters!) aufgenommen und weiter entwickelt werden sollte.


*) Doktor Johannes Faust. Puppenspiel in vier Aufzügen hergestellt von Karl Simrock. Mit dem Text des Ulmer Puppenspiels. Herausgegeben von Günther Mahal. Ditzingen: Reclam, 1991 (= RUB 6378)

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