Den Autor David Edmonds haben wir bereits hier einmal am Rande erwähnt – ohne ihn zu verschlagworten allerdings. Der Titel der dort besprochenen Dissertation bezieht sich tatsächlich auf ein Buch, das Edmonds zusammen mit J. Eidinow 2001 veröffentlicht hat. (Die Feuerhaken-Anekdote wird auch in diesem Buch hier erwähnt. Sie scheint allerdings einseitig auf einem Bericht von Popper zu beruhen, der sich darin auch als der Held und der Sieger des Arguments mit Wittgenstein darstellt. Denn – das erwähnt Edmonds im vorliegenden Buch immer wieder, wenn die Rede auf Popper kommt – es scheint diesem Mann mehr darauf angekommen zu sein, als Sieger aus einer Disputation heraus zu kommen, als darauf, der philosophischen Wahrheit oder Korrektheit ein Stück näher gekommen zu sein. Anders als es – immer noch gemäß Edmonds – zum Beispiel Carnap hielt.)
Aber damit sind wir schon mitten in diesem Buch, ja, fast schon an seinem Ende. Denn Obiges soll sich abgespielt haben, als Wittgenstein bereits in Cambridge lebte und lehrte und Popper als Gastreferenten eingeladen hatte. Da war der eigentliche Wiener Kreis als Treffpunkt von Philosophen und Intellektuellen unter der Leitung von Moritz Schlick bereits Geschichte. Und Edmonds erzählt diese Geschichte des Wiener Kreises – mit Ausnahme des Prologs – chronologisch. Außerdem sind gerade diese beiden, Wittgenstein und Popper, nie Mitglieder des Wiener Kreises gewesen. Der eine (Wittgenstein), weil er nicht wollte, der andere (Popper), weil er nie eingeladen wurde. Als Grund gibt Edmonds an, dass er wohl dem distinguierten Schlick mit seiner permanenten Rechthaberei zu ungehobelt vorkam.
Das Buch wimmelt von bekannten und unbekannten Anekdoten aus der Zeit des Wiener Kreises und über dessen Mitglieder. Wir haben es hier mit einem Sachbuch zu tun, das ein größeres Publikum ansprechen soll, und Anekdoten sind dafür immer ein probates Mittel. Ich halte es ja für ein mutiges Unternehmen, die Entwicklung einer philosophischen Schule, wie es der vom Wiener Kreis vertretene logische Empirismus ist, als Sachbuch für ein breiteres Publikum aufzubereiten. Gerade beim Wiener Kreis, der aus Diskussionen über Physik und Mathematik (und eben auch Logik) geboren wurde. Wahrheitstheorien und logische (Fehl-)Schlüsse zu verstehen, sollte zwar auch Laien möglich sein – aber der Weg einer Theorie oder zu einer Theorie ist oft verschlungen und kompliziert. Und da Sachbücher auch von Spezialisten gelesen werden, sollte bei aller Verständlichkeit die professionelle Korrektheit dennoch nicht fehlen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass es Edmonds dieser Spagat nicht übel gelungen ist – auch wenn ich manchmal ein wenig mehr Ausführlichkeit im eigentlich philosophischen Teil gewünscht hätte.
Aber Edmonds bringt dafür sehr viel Informationen bei über das allgemein in Österreich und speziell in Wien herrschende intellektuelle und politische Klima. Über die meist links der politischen Mitte stehende Ausrichtung der Mitglieder des Wiener Kreises, die sie innerhalb und außerhalb der Wiener Universität sehr rasch verdächtig machten. Über das Philosophieren im Kaffeehaus (im verklärenden Rückblick, so verstehe ich Edmonds, in seiner Wichtigkeit überschätzt) und über das freie Assoziieren auf der Couch von Freud und seinen Schülern. Über das Judentum und den Antisemitismus in Wien. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit Moritz Schlick zwar der inoffizielle Anführer des Wiener Kreises ermordet wurde, aber ausgerechnet er einer der wenigen Nicht-Juden darin war.
(Kleine Bemerkung am Rande: Es wird in diesem Text von einem geistig verwirrten Studenten gesprochen, der Schlick ermordet hat. Es gibt im Internet ein so genanntes Meme, in dem eine Art Farbenkarte an einen Täter gehalten wird, mit von oben nach unten immer dunkler werdenden Hautfarben. In der Mitte ein Strich. Oberhalb des Strichs steht neben den hellen Farben: Geistig verwirrt. Unten, neben den dunklen Farben, steht: Terrorist. Man ziehe seine Schlussfolgerungen selber.)
Das Anekdotenhafte, das wohl zu einem multibiografischen Sachbuch gehört, wird leider einige Male übertrieben. Da ist zum einen die stereotype Qualifizierung einzelner Philosophen (Frauen spielen nur am Rand eine Rolle – auch wenn eine der wichtigsten Mathematikerinnen und Logikerinnen des Kreises die Polin Rose Rand war …): Schlick der Distinguierte, Popper der Rechthaberische, Carnap der an der Wahrheit Interessierte etc. So eindimensional können diese Menschen nicht gewesen sein. Hinzu kommt, dass nicht nur die Ehen, sondern auch die Liebschaften der Philosophen genüsslich aufgezählt werden. Mit einer Ausnahme: Bei Wittgenstein wird zwar angeführt, dass sich einer seiner Brüder das Leben genommen hat, weil er fürchtete, dass der Vater seine Homosexualität entdecke – über Ludwigs Homosexualität aber breitet der Autor den Mantel des Schweigens. Ebenso übrigens bei Weininger. Bei beiden ist offenbar ihre jüdische Abstammung wichtiger als ihre Homosexualität. Was ich nicht ganz glauben kann in einer Zeit, in der – auch schon lange vor den faschistischen Regimes – Homosexualität einen Straftatbestand darstellte. Auf diesem Auge scheint mir der Autor blind zu sein.) Auch seine Erklärung, warum nach dem Zweiten Weltkrieg sich der Wiener Kreis nicht mehr in Wien bildete, legt meiner Meinung nach das Gewicht zu sehr auf Einzelentscheidungen der betroffenen Philosophen und verschweigt, dass zum Beispiel an der Universität Wien die philosophiehistorisch-metaphysische Richtung des Philosophierens, das die logischen Empiristen gerade bekämpften, sofort wieder fest im Sattel saß und keinerlei Interesse bekundete, Lehrstühle mit logischen Empiristen zu besetzen. (Wie ja auch Heidegger, eine andere bête noire der logischen Empiristen, trotz Nazi-Vergangenheit nach dem Krieg fest auf seinem Lehrstuhl sitzen blieb.)
Kurz-Lebensläufe der Mitglieder des Wiener Kreises, eine Chronologie der Ereignisse, Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister machen das Buch auch brauchbar für welche, die weitergehende Forschungen treiben möchten. Was ich einzig vermisse in einem Buch, das primär für Laien gedacht ist: einen Anhang mit kurzen, knackigen Definitionen der vom Wiener Kreis diskutierten Probleme und Begriffe – idealerweise inklusive einem Verweis, wo im Text das Problem, der Begriff, näher vorgestellt werden.
Alles in allem aber haben wir hier eine gut geschriebene und leicht verständliche Einführung vor uns in eine Zeit und in eine Philosophie, die (vor allem letztere) in der Öffentlichkeit mit Ausnahme des Namens Wittgenstein wohl wenig präsent ist – im deutschen Sprachraum noch weniger als im englischen, wo die analytische Philosophie, als Schwester des logischen Empirismus, nach wie vor an den Universitäten dominiert. Oder, wie Kollege scheichsbeutel über das Feuerhaken-Buch des gleichen Autors urteilte: eine amüsante, leicht lesbare Aufarbeitung.
David Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie. Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel. München, C. H. Beck, 2021.
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.